Zurück zur Schule. Ich fühlte mich wohl in meiner Klasse. Doch die Matheschwäche kam immer mehr zum Vorschein. Man schickte mich in die Nachhilfe. Als ich in die fünfte und sechste Klasse kam, ging es ziemlich bergab. Der Lehrer, den wir hatten, war altmodisch. Bei Fehlern musste man aufstehen und die richtige Lösung sagen. Wenn sie falsch war, stand man halt länger vor der Klasse und wusste, alle warten und schauen einen an. (…) Ich weinte viel, und einmal meinte er, es seien ja nur Krokodilstränen.
Einmal musste ich vor der ganzen Klasse aufstehen, weil ich wieder mal nichts verstanden hatte. Der Lehrer schaute mich an und fragte: «Anna, bist du eigentlich blöd?» Ich wusste nicht, was ich auf so eine Frage antworten sollte. Ich sagte nur: «Ich weiss nöd?», und setzte mich wieder hin.
Diese Geschichte schrieb sich Anna während einer Lernberatungssitzung von der Seele – fast ohne Atem zu holen. Die Überzeugung, sie könne nicht rechnen, hatte sich bei ihr also sehr früh festgesetzt und begleitete sie während ihrer restlichen Schulzeit bis in die Ausbildung zur Innendekorationsnäherin. In der Schule hatte sie kaum die Erfahrung gemacht, beim Rechnen selbst etwas bewirken und Lösungen finden zu können, entsprechend gering ausgebildet war ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit in Mathe.
Im Interview sagte Anna rückblickend:
Ich habe ziemlich darunter gelitten, weil mich mein Lehrer oft blossgestellt hat. Das hatte zur Folge, dass ich mir gar nichts mehr zutraute und ich auch nicht mehr rechnen wollte. Trotzdem musste ich den Nachhilfeunterricht im Rechnen besuchen.
Das war dann auch der Grund, dass ich einen Beruf suchte, der nichts mit Mathematik zu tun hat, sondern in dem ich eher kreativ sein konnte – Hauptsache: mit wenig Mathe. Aufgrund meiner Matheschwäche, aber auch, weil ich grundsätzlich Schwierigkeiten hatte mit Lernen – alles in den Kopf reinzubringen –, besuchte ich die Realschule und nicht die Sekundarschule. Ich hatte einfach eine Lernschwäche.
Mein grösster Berufswunsch war, Floristin zu werden. Ich habe viel geschnuppert und gesehen, dass Mathe an letzter Stelle kommt. In der Zwischenzeit weiss ich allerdings, auch eine Floristin muss rechnen können. Floristin war ein begehrter Beruf, und aufgrund meiner Schüchternheit brauchte ich lange, bis ich mich überhaupt um Schnupperstellen bewarb. Ich hatte einfach Angst, mit fremden Leuten zu telefonieren. In der Schule machte die Lehrerin Druck auf uns, machte uns Angst, dass wir nichts finden würden und dann auf der Strasse stünden. Dieser Druck war für uns alle belastend, weil wir ja genau davor, keine Ausbildungsstelle zu finden, Angst hatten. Das machte mich traurig. Als ich dann dank der Unterstützung meiner Eltern doch endlich den Mut zum Telefonieren fand und in verschiedenen Betrieben schnuppern konnte, waren die Lehrstellen schon vergeben. Also musste ich etwas anderes suchen.
Ich hätte damals eine Person gebraucht, die einfühlsam ist, die mir Mut gemacht hätte, statt Angst eingeflösst, eine Person, mit der ich meine Sorgen und Probleme hätte besprechen können, die mich verstanden hätte.
Als Zwischenlösung absolvierte ich ein Sozialjahr und lernte dabei viel fürs Leben. Gleichzeitig musste ich eine zweite Chance suchen und ging ins BIZ. Dabei entschied ich mich für den Beruf der Innendekorationsnäherin. Ich bekam auch sehr schnell eine Chance zu schnuppern und erhielt die Lehrstelle.
Ich war sehr glücklich da, ich habe gerne genäht.
Annas Geschichte zeigt, wie anspruchsvoll der Prozess der Berufswahl und der Lehrstellensuche für Schülerinnen und Schüler aus Klassen der Sekundarstufe I mit tiefem Anforderungsniveau (Niveaustufe Grundansprüche) ist und wie schwierig der Einstieg in eine berufliche Grundbildung im Wunschberuf für sie sein kann.
Vor allem zeigt die Geschichte, dass manchmal weder strukturelle Bedingungen noch psychosoziale Probleme verantwortlich sind, wenn der Start in die Berufswelt schwierig wird. In Annas Fall waren es die Haltungen einzelner Lehrpersonen in der Volksschule, die sie über lange Zeit an ihrem Selbstwirksamkeitsgefühl zweifeln liessen.
2Stellwerk ist ein standardisiertes, webbasiertes Instrument der Leistungsmessung für die Fächer Mathematik, Deutsch, Natur und Technik, Französisch und Englisch für das achte und das neunte Schuljahr (vgl. www.stellwerk-check.ch).
3Der nationale Jugendlängsschnitt TREE «TRansitionen von der Erstausbildung in die Erwerbstätigkeit» begleitet rund 6000 junge Menschen, die im Jahr 2000 an der PISA-Erhebung (Programme for International Student Assessment) teilgenommen haben, und zeichnet ihre Ausbildungs- und Erwerbsverläufe seit ihrem Austritt aus der obligatorischen Schule im Jahr 2000 auf. Als einzige schweizerische Längsschnittstudie liefert TREE nationale, sprachregionale sowie auch für einzelne Kantone repräsentative Daten.
4Der sozioökonomische Status ist ein Begriff aus den Sozialwissenschaften und bezeichnet ein Bündel von Merkmalen menschlicher Lebensumstände. Dazu gehören beispielsweise formale Bildung und Schulabschluss, Ausbildung und Studium, Beruf und Einkommen.
5PISA-Lesekompetenz ist ein dynamisches Konzept, das fünf Kompetenzniveaus definiert: von 1 = Informationen aus einfachen Texten finden und mit Alltagswissen verknüpfen bis 5 = einen komplexen Text im Detail verstehen, relevante Informationen lokalisieren, Hypothesen formulieren und ihre Gültigkeit testen.
6Verbreitet sind Eignungstests wie Multicheck und basic-check sowie branchen- oder betriebsspezifische Tests. Eignungstests wird generell ein geringer prognostischer Wert zugeschrieben; wissenschaftliche Untersuchungen zu Eignungstests in der Schweiz fehlen jedoch weitgehend (Imdorf, 2005, S. 104).
7Eine Übersicht über die intellektuellen Anforderungsniveaus der verschiedenen beruflichen Grundbildungen findet sich bei Stalder (2011).
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