Um einerseits das Vorgehen in der Praxis zu illustrieren und andererseits die von uns vertretenen theoretischen Hintergründe zu verdeutlichen, werden wir Anna in verschiedenen Kapiteln immer wieder begegnen.
Wir begleiten sie auf ihrem anspruchsvollen Weg des Lernens und erfahren gleichzeitig, was ihr dabei hilfreich oder hinderlich war, beispielsweise in Kapitel 1, in dem es um Fragen des Übergangs von der Sekundarstufe I in die nachobligatorische Bildung geht. Annas Geschichte verdeutlicht hier, welchen Einfluss die Schulkarriere auf die Berufswahl haben kann.
In Kapitel 2 zeigen wir, inwiefern institutionalisierte Früherfassung mithilfe u.a. von Standortbestimmungen in der Schulsprache und in Mathematik und anhand eines instrumentengestützten Klassenscreenings präventiv wirken kann. Wir erfahren, wie man einen Leistungsabfall in Mathematik bei Anna allenfalls hätte erkennen und durch individuelle Fördermassnahmen hätte verhindern können.
Kapitel 3 befasst sich mit den theoretischen Grundlagen, auf denen die individuelle Lernförderung beruht, und mit den Möglichkeiten und Grenzen der pädagogischen Diagnostik. Vor diesem Hintergrund zeigen wir, welche Einflussgrössen die schulische Leistung von Anna massgeblich beeinflusst haben.
In Kapitel 4 stellen wir exemplarisch Massnahmen vor, die bei Anna in der Eins-zu-eins-Lernberatung eingeleitet wurden, und dokumentieren die von Anna erzielten Fortschritte.
So führt Sie das Buch auf dem Weg von der systematischen Früherfassung über die gezielte pädagogische Einzeldiagnostik hin zu passenden Massnahmen der individuellen Förderung von Lernenden in Gross- und Kleingruppen und in der Einzelberatung. Wir zeigen, welche institutionalisierten Massnahmen im Rahmen der beruflichen Grundbildung an den drei Lernorten dazu führen können, dass möglichst alle Lernenden einen erfolgreichen beruflichen Abschluss mit anschliessendem Übertritt in den Arbeitsmarkt schaffen.
Zum vorliegenden Buch haben uns unzählige Praxiserfahrungen mit betroffenen Lernenden motiviert, die dank unterstützenden Massnahmen ihre Ausbildung erfolgreich abschliessen konnten. Andererseits haben uns Erkenntnisse aus Weiterbildungskursen zu Früherfassung, Diagnostik und Lernförderung dazu veranlasst, auf Fragen, die in solchen Kursen regelmässig wiederkehren, vorläufige Antworten zu geben – Fragen wie diese: Wozu dient Früherfassung? Was ist Diagnostik, und wie kann sie im Ausbildungsalltag nützlich sein? Wie soll bei der Früherfassung vorgegangen werden? Was erfahre ich durch den systematischen Einsatz von Diagnoseinstrumenten über das Verhalten von Lernenden? Welche Konsequenzen hat dies hinsichtlich Lernförderung, und welche Formen der Zusammenarbeit zwischen den drei Lernorten sind möglich und notwendig?
Wenn auch Sie sich mit solchen Fragen beschäftigen, wenn Sie Lernende wie Anna auf ihrem Weg des Lernens begleiten – ob im Betrieb, im überbetrieblichen Kurs oder in der Berufsfachschule –, oder wenn Sie den Auftrag haben, in Ihrer Schule, Ihrem Betrieb ein Früherfassungskonzept zu entwickeln und einzuführen, werden Sie im vorliegenden Buch mancherlei Anregung finden, um mit Lernenden und anderen Ausbildnern und Ausbildnerinnen gemeinsam zum Erfolg zu gelangen.
Es ist uns ein Anliegen, an dieser Stelle insbesondere zwei Personen zu danken.
Einmal Anna, die uns durch das ganze Buch begleitet und eingewilligt hat, ihren Weg authentisch zu veröffentlichen und dadurch die Verbindung zwischen Theorie und Praxis möglich machte – danke Anna.
Zum anderen Christoph Gassmann, unserem Lektor und Berater, der uns zu dieser Form ermutigte und uns durch seine konstruktiven Fragen, Anregungen und Kommentare während der Entstehung immer wieder darin forderte und förderte, der gemeinsamen Sache auf den Grund zu gehen – danke Christoph.
1Eine Form des Stütz- und Förderkurses; Lernende aller Berufe der entsprechenden Berufsfachschule besuchen das Trainingsmodul freiwillig. Eine Förderlehrperson betreut maximal acht Lernende. So ist eine individuelle Begleitung gewährleistet.
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Die Situation junger Menschen beim Eintritt in die Berufsbildung
Wie sich der Übergang an der «ersten Schwelle» – von der Volksschule in eine nachobligatorische Ausbildung – für junge Menschen gestaltet, hängt massgeblich von den strukturellen Gegebenheiten des (Bildungs-)Systems ab. Neben den persönlichen Interessen und den individuellen Voraussetzungen der Jugendlichen und ihrem Umfeld ist es hauptsächlich der Schultyp auf Sekundarstufe I, der bestimmt, welche nachobligatorische Ausbildung in Angriff genommen wird. Bei einem Einstieg in die Berufsbildung sind es sowohl die allgemeine Situation auf dem Lehrstellenmarkt als auch die Auswahlverfahren der ausbildenden Betriebe, die darüber entscheiden, ob und in welche berufliche Grundbildung Jugendliche eintreten können.
Zu Beginn ihrer beruflichen Ausbildung befinden sich junge Menschen in mehrfacher Hinsicht in einem Übergangs- oder Transitionsprozess und sehen sich dabei mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert: Einerseits geht es um den Übergang von einem schulischen in einen Arbeits-Alltag im Lehrbetrieb, der in der Regel nur einmal in der Woche durch einen bis zwei Tage Berufsfachschule unterbrochen wird. Zugleich sind die Jugendlichen nun mit unterschiedlichen Ausbildungssituationen und -orten und neuen Bezugspersonen konfrontiert, an die es sich anzupassen gilt. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive befinden sie sich im Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter, der geprägt ist durch unterschiedliche Entwicklungsaufgaben, die in dieser Lebensphase bewältigt werden müssen.
Die folgenden Unterkapitel beleuchten diese Zeit des Übergangs unter drei Blickwinkeln: einem strukturellen in → Kapitel 1.1, einem berufspädagogischen, auf die Zusammenarbeit der Berufsbildungsverantwortlichen fokussierten in → Kapitel 1.2 und einem entwicklungspsychologischen in → Kapitel 1.3. Diese drei Perspektiven auf den Übergang an der «ersten Schwelle» erlauben uns, die Situation von Lernenden gleich zu Beginn ihrer Berufsausbildung genauer zu verstehen. Ein solches Verständnis bildet eine wichtige Grundlage für die in diesem Buch beschriebene systematische, alle Lernorte einschliessende Früherfassung und darauf aufbauende, gezielte, individuelle Förderung von Lernenden in der beruflichen Grundbildung. Ziel dabei ist, dass möglichst alle Lernenden ihre Ausbildung erfolgreich durchlaufen und abschliessen können.
1.1Ein struktureller Blick
Der Übertritt junger Menschen von der obligatorischen Schulzeit (Primar- und Sekundarstufe I) in eine nachobligatorische Ausbildung (Sekundarstufe II), dieser Übergang an der «ersten Schwelle», stellt eine komplexe Nahtstelle dar, die durch unterschiedlichste Faktoren beeinflusst wird, so unter anderem durch den besuchten Schultyp auf der Sekundarstufe I (→ Abschnitt 1.1.1), die Herkunft und Interessen der Jugendlichen (→ Abschnitte 1.1.2 und 1.3.2), die demografische Entwicklung, strukturelle und konjunkturelle Schwankungen (→ Abschnitt 1.1.3) sowie beim Übertritt in die Berufsbildung massgeblich auch durch das Angebot an Lehrstellen (→ Abschnitt 1.1.3) und die Selektionsstrategien der Ausbildungsbetriebe (→ Abschnitt 1.1.2).
An ihrer Jahresversammlung vom 27. Oktober 2006 formulierte die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) Leitlinien zur Optimierung der Nahtstelle zwischen obligatorischer Schule und Sekundarstufe II (EDK, 2006). Das Dokument sollte die Grundlage dafür schaffen, dass möglichst alle Jugendlichen einen ihren Fähigkeiten entsprechenden Abschluss auf Sekundarstufe II erlangen können. Mit diesem Beschluss haben sich Bund und Kantone und Organisationen der Arbeitswelt (OdA) verpflichtet, mit entsprechenden Massnahmen