3.3«Produktives Scheitern» – Reflexion von Scheitererfahrungen
Einmal versuchen, scheitern. Wieder versuchen, wieder scheitern. Besser scheitern. (Samuel Beckett)
Erinnern Sie sich an Alexis Sorbas am Ende des berühmten Filmes, als sein Traum geplatzt war und das ehrgeizige Projekt der Seilbahn vom Berggipfel zum Meer in sich zusammenfiel?
Politische Denker der Aufklärung (Hobbes, Locke) beschäftigten sich mit der Gestaltungskraft des Menschen, die zusehends «perfektibel» (Zschirnt 2005, S. 37) wurden, Scheitern mutierte dadurch zum individuellen Konflikt. Die Ideen der Aufklärung beeinflussten Biographiekonzepte wie auch die Industrialisierung und Verstädterung des 19. Jahrhunderts oder die Medialisierung des öffentlichen und privaten Lebens im 20. und 21. Jahrhunderts (vgl. Zahlmann/Scholz 2005, S. 8). Biographische «Normalität» wurde und wird in alters- und geschlechtsspezifischer Prägung konstruiert (Erwerb, Ruhestand, Geschlechterrollen, Formen des Konsums und der Freizeit).
Noch unsere Elterngeneration sprach hin und wieder von gescheiterten Existenzen (meist Männer, bei Frauen wurde mit demselben Unterton gesprochen, wenn sie als «gefallen» bezeichnet wurden). Die geschlechtsdifferenten Lebensläufe als Stufenalter (Aufstieg, Höhepunkt, Abstieg) boten kaum Raum für Überraschungen oder Abweichungen. Das Diktat sozialer Erwartungen definierte die Norm und damit auch das Scheitern als deren Nichterfüllung (vgl. Zschirnt 2005).
Heute werden wir immer «perfektibler» – zwar nicht mehr ganz im Sinne der Aufklärung, wo der Mensch sich seines Verstandes bedienen sollte und gleichzeitig moralisch belehrbar war.
Was früher (allgemeines) «Schicksal» war, ist heute (individuelles) «Problem»; wir haben nicht nur grosse Aussichten, sondern müssen auch Brüche, Unvorhergesehenes, erzwungene Richtungswechsel, Orientierungswechsel und Stillstand aushalten.
Wenn man alles aus sich machen kann, kann man auch wenig oder nichts aus sich machen; wer alles aus sich machen soll, ist vielleicht bereits schon gescheitert.
Die griechische Tragödie machte das Theaterpublikum jeweils zu Zeugen des tosenden Unterganges des Protagonisten, heute können wir alle Helden werden.
Misslingenserfahrungen sind alles andere als angenehm in dem Moment, in dem sie geschehen. Aus der Retrospektive werden die Erfahrungen unter Distanznahme und Reflexion nicht selten zu einem veritablen «begleitenden Kompass» und zu bedeutsamen biografischen Wegweisern – hier liesse sich von «produktivem Scheitern» sprechen – andere Erfahrungen dagegen hinterlassen eher ein dumpfes Gefühl, versperren sich nach wie vor einer Erklärung und Einordnung.
Das produktive Scheitern entspricht dem Hoffnungsprogramm der Professionalisierung: Bewältigte Schwierigkeiten dienen durch ihre Analyse wiederkehrend, eigene Kompetenzen aufzubauen und zu erweitern; sie repräsentieren eine Kraftquelle.
Das «dumpfe Zweite» lässt sich hoffnungsvoll als «noch nicht verarbeitet» bezeichnen, pessimistisch kann es auch als eigenes Versagen oder eben als (vorläufig) endgültiges Scheitern gesehen, welches wir besser aus der Erinnerung bannen.
Scheitern wird wenig bedacht in unserer effizienz- und qualitätsorientierten Gegenwart. Scheitern ist in pädagogischen Kontexten grundsätzliches und vermeintlich endgültiges Nicht-Erfüllenkönnen von Plänen oder Nichterreichen von Zielen. Chaos, Unordnung und Disharmonie scheinen in unserer Kultur negativ belegt, das Projekt «Leben» muss ohne Umwege effizient geplant sein, Überraschungen sind nicht vorgesehen. Gleichzeitig existiert jedoch ein reiches und divergierendes Angebot an Lebensentwürfen, das Umbrüche, Umwege und Perspektivenwechsel ermöglicht und sogar provoziert. Eine Paradoxie?
Das Scheitern gehört zwar irgendwie zum Leben – möglichst aber nicht zu unserem. Als lästiges Nebengeräusch begleitet uns die Scheiter-Möglichkeit als Angst vor Armut, vor Arbeitslosigkeit, vor Krankheit, vor Statusverlust. Richard Sennett bezeichnete Scheitern als letztes Tabu der Moderne (2000): Alle denken daran, keiner spricht darüber – oder doch und dann in voyeuristischer Manier und medienwirksamer Geschwätzigkeit; exhibitionistische Lebensberichte in TV-Shows lassen Scheitern als Anekdotenstation paradoxerweise zum Erfolg mutieren.
Scheitern bedeutet «Zerschlagenes», «in Stücke Zerfallenes» (althochdeutsch Scheit: «scit» und gilt seit der griechischen Antike als unumgängliche Konsequenz der Seefahrt, die als riskante, fast blasphemische Grenzüberschreitung galt. Das Wagnis der Seefahrt wird beschrieben von der Odyssee bis zu Sindbad dem Seefahrer oder Robinson Crusoe: Ungeahnte Strömungen, seichte Stellen, aus den Augen verlorene Zielorientierung, auf Grund verändernder Wetterlage notwendige Kurswechsel, und plötzlich: Ein Schiffsbug löst sich an einem Riff, einem Felsen zerschellend, in «Holzscheite» auf. Gescheitert war damit nicht zuletzt meist auch ein Handelsgeschäft. Dies erinnert auch an die ungebrochene Faszination des Unterganges der Titanic: Scheiterten hier vielleicht technische Allmachtsphantasien oder scheiterte einfach die Liebe?
«Zerbrochen tost das Steuer, und es kracht Das Schiff an allen Seiten. Berstend reisst Der Boden unter meinen Füssen auf! Ich fasse Dich mit beiden Armen an! So klammert sich der Schiffer endlich noch Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.»
(Goethe 1968, S. 161)
Literatur und Filmkunst bieten reichhaltigen Stoff für Scheitergeschichten (das da wohl beliebteste Thema nebst der Liebe): Odysseus entrinnt dem «Scheitern» als Götterurteil im Kampf zwischen Menschen und Schicksal nur knapp, Hamlet sieht selber ein, wie katastrophal seine Lage ist. Don Quichotte scheitert daran, nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können, Charlie Chaplin scheitert als «Tramp» unentwegt und behält paradoxerweise dabei immer seine rührende Würde.
Trotzdem oder gerade deswegen erscheinen in diesem Zusammenhang paradoxerweise konsistente Konzepte (Lebenskonzepte, Organisationsdesigns, Managementsysteme oder didaktische Drehbücher) wiederum unumgänglich für eine «Sicherheitsproduktion». Zumindest braucht es eine beruhigende Kalkulation des Risikos von Unplanbarem. Der Ratgebermarkt boomt wie noch nie.
Beziehen wir uns in einem weiteren Schritt in nachstehenden Überlegungen auf pädagogische Arbeitsfelder, lässt sich fragen, ob die Eigenheit der deutschsprachigen Bildungstradition diese Spannung nicht noch potenziert, denn sie ist durch harmonisierende Züge und die Mission eines Hoffnungsprogrammes gekennzeichnet: Pädagogisches Handeln setzt immer Entwicklung zum potenziell Besseren sowie das Erreichen von Zielen voraus; das Gelingen pädagogischer Bemühungen ist – auch um Pädagogik selber zu legitimieren – zentral; allfälliges Scheitern wird nicht in Kauf genommen. Eine «Kultur des Scheiterns» hat hier mit Schwierigkeiten zu rechnen, scheinbare Planbarkeit wird als Illusion aufrechterhalten, obschon der Anspruch nicht zur Wirklichkeit passt. Pädagogische Konzepte lassen sich selber als Sicherheitskonzepte (gegen das Scheitern) lesen, weil Pädagogik durch ihren existentiellen Charakter – im Gegensatz zur Kunst – über ein grosses Sicherheitsbedürfnis verfügen muss.
Somit ist Pädagogik weitgehend nicht auf Scheitern eingestellt, weil sie sich davor in der Hoffnung auf künftiges Gelingen schützen muss. Darum lässt sich fragen: Wie gehen Pädagogen und Pädagoginnen denn mit ihren hohen Ansprüchen, ihrer Verantwortung und dem alltäglichen Misserfolg um?
Alexis Sorbas tanzt übrigens einen Sirtaki, nachdem sein Projekt in sich zusammengefallen ist – wahrscheinlich so wie nie zuvor.
Ein Gedicht von Ungaretti (1961, S. 66, orig. 1917) nimmt diesen schöpferisch-poetischen Akt ebenso auf:
Allegria di naufragi | Freude der Schiffbrüche |
«E subitio riprende il viaggio come dopo il naufragio un superstite lupo di mare» | «Und plötzlich nimmst du die Fahrt wieder auf wie nach dem Schiffbruch ein überlebender Seebär» |
(Übersetzung von Ingeborg Bachmann, Ungaretti 1961, S. 67) |
Wie lassen sich Scheitererfahrungen reflektieren oder nutzen? (Vgl. Thomann, Wehner und