Lehrende, die beispielsweise in ihrem Konfliktmanagement erfolgreich sind, haben gemäss diesem Konzept komplexere und besser organisierte subjektive Theorien (vgl. Dann 1994, S. 172), die sie sich beispielsweise im familiären Kontext oder im Verlaufe ihrer beruflichen Entwicklung (Expertenwerdung) angeeignet haben.
Nicht zuletzt beeinflussen – wie weiter oben erwähnt – auch nachhaltig eigene Schulerinnerungen und -erfahrungen Lehrende.
Bei einer allfälligen Modifikation solcher Theorien geht Dann (1994, S. 174) davon aus, dass Lehrkräfte bei einer Explikation, d. h. einer Bewusstmachung solchen Wissens, viel mehr profitieren, als sie glauben.
Erinnern und Erzählen erlebter Situationen in der Rolle als Lernende und Lehrende sowie auch gezielte didaktische Herbeiführung von Problemsituationen und deren reflektierte Lösungssuche als Übung in möglichst authentischem Kontext könnten – so Dann – zu einer solchen Explikation verhelfen.
Dies würde bedeuten (vgl. die Krisengeschichte eines Lehrers in Kap. II, 1.), dass gerade die Phasen der Professionalisierung, also die «Expertenwerdung», bewusst gemacht werden müsste.
Gleichzeitig geht Danns Ansatz davon aus, dass wir «schon etwas können, bevor wir professionell etwas tun», demnach vor unserer beruflichen Ausbildung und Sozialisierung über Ressourcen verfügen, auf die wir später «automatisch» zurückgreifen, ohne dass diese nach unserer Einschätzung professionell bedeutsam wären.
Eine Bewusstmachung oder -werdung darüber, über welche Vorkenntnisse im Sinne von Ressourcen wir verfügen, könnte demnach dem Prozess der Professionalisierung dienlich sein – ob es diesen Prozess wirklich beschleunigen würde, wage ich zu bezweifeln.
Ebenso stehe ich den etwas technisch anmutenden Anweisungen, subjektive Theorien zu «rekonstruieren» (etwa mittels des Wahl’schen Systems «beurteilbar machen – mit Expertenwissen anreichern – in neue handlungsleitende Strukturen überführen», vgl. Wahl 2001, S. 157) skeptisch gegenüber. Sie suggerieren in pädagogisch typischer Manier methodische «Machbarkeit von Bewusstsein».
Bewusstmachende Reflexionsarbeit geht meines Erachtens manchmal eigenartige, verschlungene und nicht lineare Wege.
3.6Reflexive Kompetenz
Der Begriff «Reflexion» als Konzept in der Ausbildung von Lehrenden geht auf John Dewey (1997, orig. 1910) zurück; Dewey versteht Reflexion als eine Form des Denkens, welche immer wieder durch Zweifel und Irritation, durch «gefühlte Schwierigkeit» geprägt ist und danach zu gezielter Suche und Problemlösung führt (vgl. Dick 1996, S. 98).
Nach Doyle (in: Dick 1996, S. 76) existieren in der komplexen «Ökologie» des Ausbildungsgeschehens weder ein Durchschnittslernender oder eine Durchschnittsgruppe noch eine typische Unterrichtssituation.
Folgende Komplexitätsfaktoren beeinflussen den Unterricht (siehe genauere Erklärungen in Kapitel II, 1.):
KOMPLEXITÄTSFAKTOREN IM UNTERRICHT (nach Doyle)
aus: Dick 1996, S. 76
Die Komplexität von Unterricht produziert sozusagen das Scheitern als Normalfall, setzt jedoch reflexive Kompetenz des Praktikers voraus.
Diese Reflexion geschieht meist kasuistisch, also entlang von Fällen, von Praxisgeschichten, Ereignissen, Analogien und Metaphern (vgl. Herzog 1995).
Schön (1983 in: Dick 1996, S. 97) beschreibt diese Reflexion als Konversation mit der Situation («the situation talks back to you »).
Eine reflexive Rekonstruktion von so genannten praktischen (Alltags-)Theorien kann nach Dick (1995, S. 280) folgendermassen aussehen:
REKONSTRUKTION VON ALLTAGSTHEORIEN
nach Dick 1995, S. 280
Reflexion ist somit ein berufslebenslanger Prozess, in dem Lehrpersonen ihr persönliches, praktisches Wissen und ihre vorhandenen Annahmen und Deutungen immer wieder vergewissern, überprüfen und modifizieren, um ihre Unterrichtspraxis im Sinne der Professionalisierung zu verbessern.
Distanz zur eigenen Tätigkeit, Selbstwahrnehmung, Selbstkritik als produktives Zweifeln sowie Motivation und Lust an erweiternder professioneller Veränderung sind unabdingbare Voraussetzungen für den Erfolg solcher Reflexionsarbeit.
Messner und Reusser (2000, S. 282/283) unterscheiden schliesslich folgende drei Wissensformen:
1.Bescheidwissen über die Praxis
Dieses generalisierte Buch- und Ausbildungswissen wird in der Regel nicht wunschgemäss technologisch handlungswirksam.
2.Wissen in der Praxis
Durch Nachahmung, Anregung, eigene Erfahrung, Scheitern, Nachdenken und gezielte Versuche entsteht dieses Wissen.
3.Wissen für die Praxis
Die beiden ersten Formen werden hier integriert, Theorie- und Praxiselemente, Regel- und Situationsbezüge verbinden sich.
Im Sinne Dicks würde damit das reflektierte «Wissen in der Praxis» zusammen mit ausgewähltem «Wissen über die Praxis» schliesslich zu einem «Wissen für die Praxis».
Wobei ich unter «Praxis» nicht nur unterrichtliche Tätigkeiten im Seminarraum per se begreife, sondern auch sämtliche organisationalen und gesellschaftlichen Kontextbedingungen, die diese Praxis beeinflussen.
Ausbildner/innen werden im Verlaufe ihrer Professionalisierung genauso Experten für Bildungskontextfragen wie für Bildungsarbeit.
Ich hoffe, Sie mit meinen Ausführungen vorerst einmal für ein «Wissen in der Praxis» anzuregen und mit Hilfe einiger Hinweise über die Praxis aus meiner Sicht Ihrer Praxis dienlich zu sein.
In diesem Sinne möchte ich Sie aufmuntern, sich selber und Ihre subjektiven Theorien bei folgender Lektüre «mitzunehmen», sei dies in Form Ihrer persönlichen Biografie, Ihrer beruflichen Geschichte oder Ihrer jetzigen aktuellen Praxissituation.
Ich denke, dass sich ausbildnerische Professionalität stets im dynamischen Dreieck mit den Eckpunkten Subjektbezug – Berufsfeldbezug – Inhaltsbezug vollzieht.
Als Novizin oder Novize nehmen Sie meine Ausführungen als anspruchsvoll wahr, als Expertin oder Experte hingegen müssen Sie damit rechnen, in bekannte Gewässer geführt zu werden (wobei ich hoffe, dass sich da und dort noch eine interessante Stromschnelle oder ein belebendes Gewitter finden lässt).
Ich arbeite in den folgenden Kapiteln mit aus meiner Sicht relevanten Informationen, Erfahrungen, Geschichten und (Reflexions-)Fragen aus nachdenklicher Praxis.
Diese sollen anregen, ab und an dürfen sie auch konfrontieren oder etwas verwirren.
Sie sind eingeladen, sich mit pragmatischer Gelassenheit den Luxus zu gönnen, Aspekte von verschiedenen Seiten zu beleuchten, zu theoretisieren, Aussagen nach-denkend zu verwerfen oder sie modifiziert als «Verwendungswissen» in Ihren Berufsalltag mitzunehmen und Ihre Praxis als «reflective practicioner» zu überprüfen oder gar ein wenig zu rekonstruieren.
Literaturverzeichnis Kapitel I
Aebi,