In Bezug auf unsere Rollen sind wir also gleichzeitig «Täter» und «Opfer».
Zudem: Das sich erheblich verändernde Verständnis von Lernen trifft sich seit einiger Zeit mit deutlichen ökonomisch-gesellschaftlichen Ansprüchen an Aus- und Weiterbildung.
Lernende sind nicht länger Landeplätze für gesichertes Wissen, vielmehr haben «Verstehen» und «Problemlösen» Vorrang vor sinntötender Wissensanhäufung. Auszubildende erschliessen oder generieren ihr Wissen selbst.
Als reine salamididaktische Inhaltszuliefernde verlassen wir Ausbildner/innen langsam die Bühne, das «Phantom» der einheitlichen Gruppe oder Klasse entpuppt sich als heterogene Versammlung von individuellen Lernerinnen und Lernern («from the sage on the stage to the guide on the side»). Die damit einhergehende Rollenerweiterung von Lehrenden entpuppt sich dabei notgedrungen auch als Rollenverlust.
Gleichzeitig gilt im Aus- und Weiterbildungsgeschäft die Effizienz- und Qualitätsfrage nicht nur für Bildungsprozesse, sondern auch für Bildungsorganisationen, die uns als Bildungsfachleute miteinschliessen.
Auf unserem Lernweg sind wir Lehrende folglich angehalten, uns einerseits den uns anvertrauten Aus- und Weiterzubildenden dialogisch zu nähern, sie einzeln in ihren Verstehensprozessen und Vorgehensweisen zu unterstützen. Andrerseits sind wir als «Gesellschaftsagenten» gefordert, uns mit der Qualitäts- und Effizienzfrage auf allen Ebenen zu beschäftigen.
Das traditionelle berufliche Rollenbild der Ausbildnerin/des Ausbildners steht somit zwar nicht auf dem Kopf, sicher aber auf neuen Beinen!
Wenn wir lehren, leiten, Unterricht gestalten, begleiten, beraten und beurteilen und uns zudem als Infotainer, Unterhalter, Mütter, Brüder, Sozialarbeiterinnen, Lehrmittelvollstrecker, Verkäufer und Gesellschafts- und Organisationsagentinnen betätigen, bewegen wir uns in einer in sich widersprüchlichen, anspruchsvollen und sich immer wieder verändernden Rollenvielfalt.
Mit den Worten Bichsels gesagt, sind wir gleichzeitig «Staatsanwalt, Verteidiger und Richter in einer Person» (Bichsel 1984, S. 10).
Eine erfolgreiche Interpretation solch verschiedener Rollen bedarf einerseits einer hohen (Selbst-)Wahrnehmung, inhaltlichen Wissens und Handlungsstrategien in einzelnen Kompetenzbereichen, andrerseits ebenso der Fähigkeit, integrativ und situativ verschiedene Rollenkompetenzen zu unterscheiden und «unter einen Hut» zu bringen, ohne sich selbst zu verlieren.
Laut einem Bericht der Schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz EDK (2000, vgl. auch Renold 2001, S. 160) gewinnen drei Anforderungen an Lehrpersonen in Zukunft an Bedeutung:
●Rollen situationsgerecht zu interpretieren,
●sich in Rollen anderer versetzen zu können,
●Diskrepanzen zwischen in sich widersprüchlichen Erwartungen anderer und den eigenen Bedürfnissen zu ertragen.
Beleuchte ich pädagogische Berufsrollen innerhalb der Dyade Lehrperson – Lerngruppe, lässt sich ein Rollenstrauss skizzieren:
ROLLENSTRAUSS DER AUSBILDENDEN
Wir skizzieren die einzelnen Handlungsfelder von Lehrenden im Folgenden in Form von Rollen in einem so genannten «Strauss» kurz und werden dieses Modell als Basis und Orientierung für viele Ausführungen im vorliegenden Buch benutzen.
Folgende Rollen von Lehrenden lassen sich ausmachen:
Inhaltsexperte/-expertin sein
Ursprünglicher Grund des Auftrages der Lehrenden ist ihre Expertise, z. B. fachspezifisches Wissen, inhaltliches Durchdringen-Können des «Stoffes».
Lehr- und Lernsituationen planen und gestalten
Präsenzunterricht gestalten (Vorlesungen, Inputs, Aktivierung Teilnehmender oder Studierender, Übungen, Anwendungsaufgaben), Inszenieren von fall- und problembasiertem Lernen, Gestalten von Blended-Learning-Sequenzen, Produzieren und Gestalten selbsterklärender Scripts, interaktiver Lernmaterialien auf Lernplattform etc.
Siehe Kapitel II
Leiten und Kommunizieren
Leiten von Projektgruppen, Anleiten zum Selbststudium, Moderieren von Plenumsveranstaltungen, Führen von Konfliktgesprächen, Umgang mit schwierigen Situationen und/oder Teilnehmenden, Entscheiden bei Promotionsfragen etc.
Siehe Kapitel III und Kapitel V
Wahrnehmen und Beurteilen
Kompetenz- und lernzielorientiertes Prüfen, Gestalten von Leistungsnachweisen und Prüfungssituationen, Formulieren von Prüfungsfragen, Interpretieren und Bewerten von Leistungen, Kommunizieren von Bewertungen etc.
Siehe Kapitel IV
Begleiten und Beraten
Begleiten (längerfristig, Projekte, Gruppen- oder Einzelarbeiten)
Längere Begleitaktivitäten (Anleitung, Beratung, Controlling) während Selbststudium, Begleiten von Bachelor-/Master-/Diplomarbeiten, Begleiten von Praktika/Projekten, Begleiten Teilnehmender oder Studierender während ihrer ganzen Ausbildungszeit etc.
Siehe Kapitel VI
Beraten (kurzfristig, zielorientiert, eher einzelne Studierende)
Einzelne Teilnehmende (oder kleine Gruppen von Studierenden) in ihren Lernprozessen zielorientiert und «kontraktiert» beraten, diagnostizieren (etwa in Problem-based-Learning-Sequenzen, bei Stolpersteinen in einem Projekt oder in einer schriftlichen Arbeit, bei ungenügenden Leistungen), Beraten von Teilnehmenden zur Organisation der Weiterbildung und beruflicher Ausrichtung etc.
Siehe Kapitel VI
Institution vertreten und Organisation gestalten
Mit-Entwicklung von Curricula, von Kompetenzprofilen, Beurteilungskonzepten, Evaluationen; Kooperation mit Kollegium etc.
Siehe Kapitel VII
Gesellschaftlichen Bildungsauftrag wahrnehmen
Als gesellschaftlich anerkannte «öffentliche» Expertin oder Experte auftreten, als Modell wirken, «arriviert» sein. Als Türöffnerin oder Türöffner für gesellschaftliche Funktionen von Studierenden etc. wirken.
Integraler Bestandteil aller Kapitel
Rollenerwartungen von Teilnehmenden an Dozierende
Die beschriebenen Rollen überschneiden sich selbstverständlich: Beispielsweise existieren Nahtstellen zwischen der Beurteilungs- und der Institutionsvertretungsrolle oder zwischen der Führungs- und der Lehrgestaltungsrolle.
Die Komplexität des Rollenstrausses erhöht sich zudem durch die spezifischen Rollenerwartungen von Teilnehmenden oder Studierenden: Die einen erwarten von Dozierenden und Kursleitenden reine Expertise, andere möchten klare Führung, wieder andere wünschen sich zurückhaltender Begleitung. Weitere verlangen immer wieder individuelle Beratung oder pochen auf klare Beurteilung, einige sehen die dozierende Person als Vertretung der Institution oder als Modell einer gesellschaftlich anerkannten Funktion.
Diese Erwartungshaltungen verschieben sich von Fachgebiet zu Fachgebiet, von Dozent/in zu Dozent/in. Somit bewegen Lehrende sich dauernd zwischen differierenden Rollenerwartungen. Sie müssen Prioritäten setzen und Kompromisse zwischen eigenen Rollenvorlieben und Rollenerwartungen der Institution und der Lernenden eingehen.
Einzelne Lernende – die auch untereinander in unterschiedlicher Beziehung stehen und als Gruppe eine «Dynamik» (vgl. Kap. III) entwickeln – «rufen» beim Lehrenden verschiedene Rollen ab. Gleichzeitig sind die einen Rollen formal klarer vorgegeben als andere Rollen.