In den letzten Jahrzehnten sind konstruktivistische Ansätze stark beachtet worden (siehe auch 1.2. in Kapitel IV). Im Gegensatz zum Kognitivismus wird Lernen nicht als Informationsverarbeitungs-, sondern als Konstruktionsprozess begriffen (vgl. Göhlich/Zirfas 2007; Faulstich 2008). Wissen wird nicht mehr oder weniger passiv aufgenommen und verarbeitet, sondern das Subjekt baut aktiv Wissen auf. Ernst von Glasersfeld, ein zentraler Vertreter des Konstruktivismus, betrachtet entsprechend Wissen nicht als «Repräsentation einer vom Erlebenden unabhängigen […] Welt […], sondern unter allen Umständen als interne Konstruktion eines aktiven, denkenden Subjekts» (Glasersfeld 1998, S. 503). In der Erwachsenenbildung wurden konstruktivistische Positionen breit rezipiert, insbesondere von Horst Siebert. Bei ihm mündet die Reflexion des Konstruktivismus in der didaktischen Konsequenz: «Erwachsene sind zwar lernfähig, aber unbelehrbar» (2012, S. 35). Er wendet sich damit gegen eine Abbildvorstellung von Lehren und Lernen, der die Auffassung zugrunde liegt, dass Teilnehmende das lernen, was gelehrt wird. Betont wird hingegen die Eigensinnigkeit der Lernenden; es wird nur das angenommen, was als grundsätzlich viabel, also gangbar erlebt wird.
Seit einigen Jahren besonders einflussreich sind neurophysiologisch geprägte Positionen zum Lernen. Mit stark verbesserten bildgebenden Verfahren wird versucht, Gehirnaktivitäten sichtbar zu machen und im Gehirn einzelne Zentren und Felder für bestimmte Funktionen (Sprache, Emotionen etc.) zu identifizieren. Besonders bedeutsam geworden ist die Vorstellung einer neuronalen Plastizität (vgl. Göhlich/Zirfas 2007, S. 11): Ausstattung, Erregungsübertragung und Gestalt der Neuronen kann sich langfristig ändern. Definitionen von Lernen entsprechen dieser Vorstellung: «Lernen bedeutet Modifikation synaptischer Übertragungsstärke» (Spitzer 2003, S. 146). Von Seiten der Erziehungswissenschaft werden neurophysiologische Positionen zum Teil heftig kritisiert. Kern der Kritik ist, dass Lernen als ein materieller Prozess identifiziert wird und dass entsprechend Sinn als Basis menschlichen Handelns und damit auch Lernens ausgeblendet wird.
In den Bildungswissenschaften ausführlicher diskutiert werden weiterhin phänomenologische Ansätze und seit Jahren stark auch subjektwissenschaftliche Positionen. Phänomenologische Ansätze (z. B. Meyer-Drawe 2003) richten ihren Blick nicht nur auf die Resultate des Lernens, den Wissenserwerb, sondern auf Lernen als Prozess und als Erfahrung in einem umfassenderen Sinn: «Lernen bedeutet immer auch die Geschichte des Lernenden selbst, den konflikthaften Prozess seiner Veränderung» (Meyer-Drawe 2003, S. 506).
Eine für die Erwachsenenbildung zentrale, stark beachtete, subjektwissenschaftliche Position geht von den Arbeiten Klaus Holzkamps (1995) aus. Grundsätzlich geht es Holzkamp darum, Lehren und Lernen voneinander analytisch zu trennen und Lernen als eine eigenständige Aktivität theoretisch zu fassen. Lernen wird als ein Aspekt des aus Lebensinteressen vom einzelnen Menschen begründeten Handelns begriffen. Zum Lernen kommt es insbesondere dann, wenn Hindernisse im Handlungsvollzug auftreten und wenn dabei antizipiert wird, diese Hindernisse durch Lernen überwinden zu können. Lernen wird als nicht von aussen bedingt, sondern als vom Subjekt, vom Lernenden, begründet gesehen. Entsprechend kritisiert Holzkamp die Vorstellung, dass Lehre automatisch zu Lernen führt. Er nennt diese Vorstellung Lehr-Lernkurzschluss.
Wir sehen für die Erwachsenen- und Weiterbildung insbesondere diese subjektorientierte Position als weiterführend, ohne andere Ansätze grundsätzlich zu missachten. Dennoch sind beim Lernen Erwachsener gerade die folgenden Aspekte dieses Ansatzes als Leitlinien tragfähig:
●Die Sichtweise der lernenden Person wird in den Mittelpunkt gestellt.
●Dabei erfolgt Lernen nicht als von aussen verursachtes, sondern als vom Lernenden begründetes Handeln
●Die subjektive Bedeutsamkeit des Lerngegenstands oder des Lerninhalts ist für Lernen oder Nicht-Lernen wesentlich.
●Lernen erfolgt in einer Verbindung mit eigenen Berufs-, Arbeits- und Lebensinteressen und verbindet sich mit dem Versuch, die eigene Lebensqualität zu erhöhen.
●Mögliche Lernwiderstände sind keine Störungen, sondern lassen sich als begründete Handlungen begreifen, die es zu verstehen gilt.
Wir bewegen uns weg von der üblicherweise zentral gestellten Frage «Wie können wir optimal lehren?» hin zu der Frage «Was ist notwendig, damit die Lernenden besser lernen können?». Es geht darum, «expansives» (im Gegensatz zu einem «defensiven») Lernen zu fördern. Als Elemente einer entsprechenden subjektorientierten didaktischen Position können gelten:
1.Teilnehmenden-Orientierung: sich über Ausgangsbedingungen klar werden, anzuknüpfen an TN-Erfahrungen, Transparenz und Aushandlung des Vorgehens
2.Problembezug: konkrete Handlungsmöglichkeiten oder -probleme in der Arbeits- und Lebenswelt in den Mittelpunkt stellen
3.Handlungsorientierung: die Teilnehmenden in die Lage zu versetzen, selber handeln zu können
4.Methodenoffenheit: Vielfalt der Aneignungsformen nutzen von Unterricht über Gestalten bis reales Handeln
5.Selbsttätigkeit: Eigenaktivität der Teilnehmenden fördern und zulassen
6.Gruppenbezug: an gemeinsamen Problemen arbeiten, um Transfer zu ermöglichen (vgl. Faulstich/Zeuner 2006, S. 52 f.)
Diese Elemente sind nicht rezepthaft zu gestalten, sondern müssen immer wieder konkret durch das professionelle Handeln von einzelnen Aus- und Weiterbildenden ausgefüllt werden. Ein Rezeptbuch gibt es nicht.
Oben wird erwähnt, dass die biografische Rückbindung ein wesentlicher Aspekt von Erwachsenenlernen ist: «Lernen als lebenslanger Prozess ist nicht nur ein momentanes Sich-Einlassen auf situative Problemlagen, sondern immer auch ein biographisches Projekt. Zwar nehmen die Lernherausforderungen, zum Teil auch die Lösungsoptionen zu, die an Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebenslagen herangetragen werden. Ihre Umsetzung und Verwirklichung aber geschieht ‹gebrochen› durch die sich allmählich im Laufe eines Lebens zu einer Individualität aufschichtenden Muster und Strukturen, in die auch alle Lernerfahrungen eingegangen sind. Didaktisch angeleitete Ermöglichung individuellen Lernens geschieht so in einem kreativen Spannungsverhältnis mit diesen lebensgeschichtlich erworbenen, habitualisierten und Lernen auch begrenzenden Gestaltungsstrategien» (Arnold u.a. 2000, S. 7). Die biografische Prägung von Lernenden kann nicht abgestreift werden, sie kann Lernenden aber reflexiv bewusster gemacht und damit auch in ihrer Bedeutung für das (eigene) Lernen eingeschätzt werden.
3.2Die bildungsbiografische Methode
«Das Leben kann nur rückwirkend verstanden werden. Es muss aber vorausschauend gelebt werden.»
Søren Kierkegaard
Es ist damit zu rechnen, dass im Zuge des «lifelong learning» im Bereich der Aus- und Weiterbildung von Erwachsenen die Heterogenität von Teilnehmenden bezüglich Herkunft, Alter, Potenzial, Motivation etc. steigt. Einzelne Lebensverläufe werden trotz normativer Vorgaben variabel und kritische Lebensereignisse, Krisen und Brüche begleiten solche Lebensentwürfe; sie stellen damit hohe Anforderungen an Lehr- und Lernfähigkeiten in den Bildungsprozessen aller Beteiligten.
Unter Biografie verstehe ich hier die Gesamtheit aller Ereignisse, Erfahrungen und Handlungen, welche bewusst oder unbewusst unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Es handelt sich also eher um die durchaus auch subjektiv gefärbte «Lebensgeschichte» als um den aus äusseren Daten zusammengesetzten «Lebenslauf»