Danach verzweigt sich die Entwicklung, die eine Gruppe schöpft «aus dem Vollen», wagt Neues, experimentiert auf sicherem Boden, die andere muss ihre Situation neu bewerten, zweifelt, gerät in eine Krise.
Nicht einmal die Hälfte dieser Lehrenden erreicht nach Hubermann eine Lösung der Krise, zahlreiche resignieren in der 4. Phase, werden zynisch und manifestieren Burn-out-Syndrome, andere erschliessen sich neue Perspektiven und erleben einen zweiten Frühling.
Mit der Zeit finden erfolgreiche Lehrende Distanz und Gelassenheit, um sich in der letzten Berufsphase allmählich zurücknehmen zu können.
Hubermann argumentiert mit seinem Stufenmodell auf Basis der Daten von Lehrenden mit langjährigen Berufslebensläufen; interessant wäre es, darüber nachzudenken, wie sich «Stabilisierung» beim heute zunehmenden Wechsel von Arbeitgebern und Arbeitsorten, aber auch durch vermehrte Veränderung von Gruppenzusammensetzungen bei immer wieder erzwungenem «Entdecken» durch Neuanfänge entwickeln kann.
Vielleicht erstarren wir ja weniger in Routine, wenn wir sozusagen dauerhaft mit einer Portion «survival» herausgefordert werden …
Die Stärke dieses Modells besteht in der realistischen Berücksichtigung möglicher schwieriger Entwicklungen zu Frustration und Resignation.
Im Gegensatz dazu wirken sowohl das Konzept von Fuller und Brown als auch das nächste Modell eher als normativ optimistisch (wie «es» sein müsste).
Modell C: Das Novizen-Experten-Paradigma
Aus Kognitionspsychologie und in spezifischer Modifikation aus der Pflegedidaktik des Gesundheitswesens (Benner 2017) kennen wir das Novizen-Experten-Paradigma (vgl. Messner/Reusser 2000, S. 162), in dem berufliche Entwicklung als sukzessiver Aufbau von professioneller Fähigkeit und Professionswissen verstanden wird.
Das Konzept beruht unter anderem auf einem Modell des Kompetenzerwerbs, das der Mathematiker S. Dreyfus und der Philosoph H. Dreyfus auf der Grundlage von Untersuchungen an Schachspielern und Piloten entwickelt haben. Grundsätzlich betont es, dass vor allem Experten über viel «Know-how»-Wissen verfügen, ohne dazu im Sinne von «Know-that» Erklärungen geben zu können.
Wissen und Können «rutschen» somit in die Bereiche des Vor- und Unbewussten und werden damit zu schlecht erklärbarem «Erfahrungswissen».
Beispielsweise dürfte es uns schwerfallen, genau zu erklären, wie wir schwimmen gelernt haben oder wie wir dies heute genau tun. Wir – oder die meisten von uns – können es «einfach». Paradoxerweise müssen wir uns aber, wenn wir als Schwimmlehrer Anfänger sind, in unserer Vermittlungstätigkeit an standardisierte und generalisierte Vorgaben anderer (Experten, Lehrmittel) oder an unsere «Intuition» – welche vielleicht so etwas wie unbewusstes Erfahrungswissen darstellt – halten.
Steht nun die standardisierte Vorgabe im Widerspruch zu meiner «Intuition» oder meinem unbewussten Erfahrungswissen, muss ich «Übersetzungsarbeit» leisten und die beiden Wissens- und Verfahrensformen untereinander sowie mit den Lernmöglichkeiten der Teilnehmer/innen in Einklang bringen.
Auch dass wir beispielsweise «einfach» schwimmen können, nützt uns so lange wenig, bis wir wiederum (Erfahrungs-)Wissen in der Vermittlung aufgebaut haben, welches aber auch wieder – eventuell als erweiterte «Intuition» – nur bedingt unserem Bewusstsein zugänglich ist.
Die Entwicklungsstadien des Novizen-Experten-Paradigmas werden (nach Messner/Reusser 2000, S. 162 ff. in Anlehnung an Dreyfus/Dreyfus 1986, vgl. auch Terhart 1998, S. 570 ff.) wie folgt beschrieben:
1.Novizenstadium
Novizen verfügen über gelernte kontextfreie Regeln, die zwar rational begründet werden können, jedoch nicht adaptiert sind. Das kann in Störungssituationen Chaos oder Rigidität in ihrem Verhalten zur Konsequenz haben.
2.Fortgeschrittenes Anfängerstadium
Die Orientierung erfolgt hier vermehrt anhand von praktischen Handlungserfahrungen; Erinnerungen an ähnliche Fälle und dadurch ermöglichter Transfer führen zu zunehmender Beweglichkeit.
3.Stadium des kompetenten Praktiker s/der kompetenten Praktikerin
Durch eine Analyse des Ausbildungsgeschehens verfügen kompetente Praktiker über flexible Handlungspläne und damit über mehr Sicherheit.
4.Stadium des gewandten Praktikers
Der gewandte Praktiker/die gewandte Praktikerin zeigt durch (Erfahrungs-)Wissen geschickte Situationsverarbeitung. Bewusste Reflexion tritt hinter intuitivem Vorgehen zurück. Die «Feinwahrnehmung» von Situationen ist geschärft.
5.Meister- oder Expertenstadium
Der Meister/die Meisterin agiert und reagiert schnell, angemessen und routiniert auf eine Vielfalt von unterschiedlichen und schwierigen Situationen. Sofortiges Erkennen ersetzt planvolles Entscheiden, «es funktioniert einfach».
Solche Experten wissen in der Regel mehr, als sie erklären können, und folgen meist ihrer «Intuition», ihrem «Kennerblick».
Zwar wirkt das Novizen-Experten-Phasen-Modell etwas starr und schematisch, jedoch zeigt es auf, in welch subtiler Form sich Professionalität aufbaut, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Zudem verdeutlicht das Modell, dass verschiedene Lehrpersonen mit denselben Anstellungsbedingungen, Funktionen und Aufgaben sich in völlig unterschiedlichen Professionalitätsphasen bewegen. Dies erschwert kooperative Kommunikation mitunter, weil Novizen ihre Meisterwerdung nicht antizipieren und Meister ihre Meisterwerdung nicht mehr nachvollziehen können.
Damit wäre das, was wir am besten wissen und können, uns wahrscheinlich am wenigsten bewusst (vgl. Bateson 1994, S. 199).
Reflexionsfragen «Berufssozialisation»
●Erinnern Sie sich an «survival-Jahre» oder «survival-Phasen»? Gibt es spezielle Vorfälle, Begegnungen, Geschichten?
●Erkennen Sie sich tendenziell im Modell von Hubermann wieder? Wo situieren Sie sich?
●Zeichnen Sie in Ihrer Art anhand Ihrer individuellen Schlüsselerkenntnisse und -situationen Ihren bisherigen beruflichen Entwicklungsverlauf auf. Wie wirkt Ihre Zeichnung auf Sie? Zeichnen Sie Ihren gewünschten zukünftigen Verlauf. Was müssten Sie tun, um diesem Wunsch zu entsprechen?
●Ordnen Sie sich im Novizen-Experten-Modell einem Stadium zu. Wie begründen Sie die Zuordnung?
●Hat sich im Verlaufe Ihrer beruflichen Entwicklung das Verhältnis von «geplanten Handlungen» zu «intuitivem Erfahrungshandeln» verändert? Wie?
Lieber nicht!
Ich habe von einem Land gehört, da sollen die Meister vom Himmel fallen. Soll ich nun dorthin ziehen, gleich jetzt und so schnell mich die Beine tragen? Ich lass das hübsch bleiben, sonst werde ich noch von einem fallenden Meister erschlagen.
Hans Manz, Quelle unbekannt
3.5Das Konzept der subjektiven Theorien
Beruflich handlungswirksames Wissen ist gemäss obigen Ausführungen auch den so genannten Experten wenig bewusst und schlecht verfügbar.
Lehrende verfügen nach dem Konzept der subjektiven Theorien (vgl. Groeben et al. 1988) neben ihrem fachlichen Wissen über ein grosses Repertoire an subjektiv-theoretischen Wissensbeständen etwa über Lernprozesse, Lehrmethoden, Lernende sowie das eigene Handeln; diese benutzen sie in ihrem Ausbildungsalltag, ohne sich dessen unbedingt bewusst zu sein.
Viele solcher Theorieanteile sind mit den Worten Bourdieus (1987) «habitualisiert» und als «inkorporierte» Gewohnheiten verankert. Damit produzieren wir sozusagen Vortheorien und Annahmen über Dinge und Menschen. Solche Alltagestheorien bilden sich im Verlaufe der persönlichen Entwicklung als biografische