Kompetenzen werden demnach nur im Arbeitsprozess sichtbar und können nur dort evaluiert werden. Die ausgewiesene und sichtbar gewordene Kompetenz nennt Le Boterf in Anlehnung an Chomsky «Performanz», die keine künstliche Aufteilung in Selbst-, Sozial-, und Fachkompetenz mehr erkennen lässt. Erst diese Performanz würde dann qualifizierbar und damit von einer externen Autorität anerkennbar.
Aus Performanz kann demnach auf Kompetenz geschlossen werden, das Ausbleiben von Performanz bedeutet jedoch nicht, dass Kompetenz nicht vorhanden ist.
Transfer von Wissen oder Kompetenzen ist immer kontextabhängig und steht wahrscheinlich auch in engem Zusammenhang mit jeweilig fachspezifischem Wissen. Wissen wird also nicht importiert und verarbeitet wie ein industrieller Rohstoff; Wissen wird als Transferwissen in problemhaltigen, komplexen und sozialen Lernkontexten aufgebaut und – wenn schon – dann im Praxisalltag verallgemeinert. Es lässt sich zusammenfassend festhalten, dass Kompetenzen Verbindungen von Wissen, Können, Erfahrung und Haltungen meinen, mit denen komplexe Situationen eigenständig in der Praxis handelnd bewältigt werden können. Daneben beinhalten Kompetenzen nicht zuletzt motivationale Elemente wie etwa den Willen, ein Problem lösen zu wollen, die Ausdauer, Rückschläge zu ertragen, oder die Ambiguitätstoleranz.
Solche Überlegungen führten zum Beispiel zum interessanten CoRe (Kompetenzen-Ressourcen)-Projekt in der Schweizer Berufsbildung, einem Modell der Curriculumsentwicklung, das auf den Säulen «subjektive Dimension», «soziale Dimension» und «theoretische Bezüge» basiert (Ghisla et al. 2008) und Lernenden eröffnen soll, Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen (so genannte Ressourcen) zu erwerben, die eine kompetente Bewältigung von komplexen Praxissituationen ermöglicht.
Nachdem das lernpsychologische Verständnis ergründet ist, nun zu den didaktischen Dimensionen.
Didaktische Sichtweise: Konsequenzen für tertiäre Bildung (Hochschulbildung und Höhere Berufsbildung)
Was bedeutet ein solches Verständnis von «Kompetenz» oder «Ressourcen» nun konkret für didaktische Arrangements im handlungs- und berufsorientierten Bildungskontext?
Der Autor hat zusammen mit einer Steuergruppe im Rahmen der Planung von kompetenzorientierter Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen an der Pädagogischen Hochschule Zürich (2014/2015) den Versuch unternommen, unter Bezugnahme auf erwachsenenbildnerische Konzepte Lernprinzipien zu formulieren, didaktische Konsequenzen davon abzuleiten und das Ganze zu Prämissen der Kompetenzorientierung in Bezug zu setzen (wie sie weiter oben ausgeführt wurden).
Dabei wurden Prinzipien ins Zentrum gesetzt, welche immer wieder mit Kompetenzorientierung in Verbindung gebracht werden, wie etwa die Anerkennung von vorhandenen Kompetenzen (was bildungspolitisch relevant ist), oder die Kontext- und Situationsorientierung von Kompetenzen (siehe Le Boterf weiter oben).
Den nachstehenden Prinzipien folgen jeweils kursiv gesetzt Überlegungen in Verbindung zur Kompetenzorientierung.
Prinzipien des Lernens, didaktische Konsequenzen und Bezüge zur Kompetenzorientierung
1. Lernen ist Anschlusslernen.
●Erfahrungen von Aus- und Weiterbildungsteilnehmenden werden anerkannt und einbezogen.
●Weiterbildungen nutzen Expertenwissen und unterschiedliche Ressourcen von Aus- und Weiterbildungsteilnehmenden.
Bereits erworbene Kompetenzen der Teilnehmenden werden im Vorfeld bei Aus- und Weiterbildungsteilnehmenden abgeklärt (Bedingungsanalyse), wenn notwendig validiert und anerkannt oder für die spezifische Weiterbildungs-/Ausbildungssequenz nutzbar gemacht.
2. Lernen richtet sich an Ergebnissen aus.
●Aus- und Weiterbildungen pflegen Ziel- und Vorgehenstransparenz und überprüfen gesetzte Ziele und Ergebniserwartungen wo möglich gemeinsam mit den Teilnehmenden.
●Die Kohärenz von Zielen, methodischer Gestaltung und Ergebnissicherung zeichnet Aus-/Weiterbildungsangebote aus.
Die Ziele beziehen sich auf ein transparentes übergeordnetes Kompetenzprofil des Aus-/Weiterbildungsprogrammes. Dieses Profil setzt sich zusammen aus vorgegebenen und von Aus- und Weiterbildungsteilnehmenden eingebrachten Kompetenzansprüchen. Zielüberprüfung und Ergebnissicherung geschehen gemeinsam entlang diesem Profil.
3. Lernen geschieht in einer (sozialen) Vereinbarungs- und Auseinandersetzungskultur.
●Gegenseitige Verbindlichkeit wird im Rahmen der Aus- und Weiterbildungen gepflegt (Vereinbarungen zu Zieldefinierung, zu Ergebnissicherung sowie zu Lehr- und Lernkultur).
●Es gibt eine konstruktive Feedback-Kultur, sei es in formativer (Kalibrierung zwischendurch) oder in summativer Art und Weise (Evaluationen).
●Perspektivenwechsel wird durch Austausch und Auseinandersetzungen in Aus- und Weiterbildungen gefördert, Lernergebnisse und Lernschritte werden sichtbar gemacht und stehen anderen zur Verfügung, Wertehaltungen werden thematisiert.
Kompetenzerwerb geschieht stets in sozialen Kontexten und sozialem Eingebundensein. Die gemeinsam vereinbarte und gestaltete Lehr-/Lernkultur ermöglicht Erfahrung von Differenz und den – für die Kompetenzentwicklung notwendigen – Perspektivenwechsel.
4. Lernen ist ein aktiver und selbstgesteuerter Prozess.
●Für ihren Lernerfolg und die Gestaltung von Lernprozessen sind Aus- und Weiterbildungsteilnehmende mitverantwortlich.
●Sie erhalten im Rahmen der Weiterbildungen die Möglichkeit, selbstorganisiert Themen und deren Bearbeitungsform zu wählen und werden dabei unterstützt und begleitet.
●Handlungsorientierung und -wirksamkeit sind beim Lernen leitende Prinzipien.
Kompetenzen werden unter anderem aufgebaut, indem Selbstwirksamkeit und Handlungswirksamkeit erfahren wird. Beides wird im Rahmen der sozialen Situation innerhalb der Aus- und Weiterbildung («hier und jetzt») erfahrbar. Vorhandene individuelle Ressourcen werden aktiviert, zusätzliche zur Verfügung gestellt.
5. Lernen ist kontextorientiert.
●Um Themen reflexiv und antizipativ zu bearbeiten, hat Praxis- und Kontextorientierung eine hohe Bedeutung.
●In der Aus- und Weiterbildung thematisierte Ideen, Modelle und Vorhaben für verschiedene Praxissituationen werden angewendet, umgesetzt und überprüft (Situationsbewältigung in der Praxis).
●Daraus werden Folgerungen für Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Themenauswahl- und -bearbeitung gezogen.
Der Kompetenzerwerb erfolgt kontextorientiert und situationsbezogen; der Kontext der Aus-/Weiterbildung entspricht nicht demjenigen der Praxis. Einige Kompetenzen sind im Rahmen der Aus-/Weiterbildung zwar förder- und überprüfbar, der praxisrelevante Kompetenzerwerb kann jedoch erst in der entsprechenden Praxissituation überprüft werden (Performanz). Präzise Situationsanalysen erhöhen die Chance des Transfers.
Eine solche Verbindung von Praxis und Aus-/Weiterbildung ermöglicht es, diejenigen Aspekte der Kompetenzorientierung zu berücksichtigen, die relevant sind für eine adäquate Performanz von professionellem Personal in spezifischen Kontexten und Situationen; die Verbindung gibt zudem einem Kompetenzprofil Sinn, indem sie ermöglicht, sich zu orientieren zwischen Kompetenzbedarf, schon vorhandenen und zu entwickelnden Kompetenzen sowie Aus- und Weiterbildungsteilnehmende in ihrer Kompetenzentwicklung beteiligt.
PRINZIPIEN VON LERNEN UND KOMPETENZORIENTIERUNG
Eine ganz andere, nicht minder spannende Frage wäre, inwiefern Ausbilder/innen und Pädagoginnen und Pädagogen ihre Kompetenzen überhaupt sichtbar machen wollen.
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