Diese Expansion könnte wiederum die Argumentation stützen, das Lernsystem Weiterbildung weiterhin nur zurückhaltend politisch zu regulieren. Politische Eingriffe wären in der Tat nicht notwendig, stünde in der Weiterbildung alles zum Besten. Dass dies nicht der Fall ist, wird besonders offenkundig an einer fortdauernden sozialen Selektivität der Weiterbildungsbeteiligung. Die Learning Society ist keinesfalls für alle gleichermassen Realität. Es bestehen nach wie vor ungleich verteilte Beteiligungschancen und damit erhebliche Teilnahmedisparitäten zwischen verschiedenen sozialen Gruppen. Generell gilt: Wer viel Bildung erfahren durfte, dem kommt im weiteren Lebenslauf noch mehr Bildung zugute. Man spricht in diesem Zusammenhang auch vom sogenannten «Matthäus-Effekt» (ausführlicher siehe Kapitel 2.2). Das Bildungssystem insgesamt ist dabei doppelt selektiv: zunächst im Bereich der obligatorischen und weiterführenden Bildung, dann auch in der Weiterbildung – bei allen z.T. vorhandenen Bemühungen, diese Selektivität zu vermeiden oder zu mildern. Das Teilnahmeproblem hängt mit weiteren Defiziten in der Weiterbildung zusammen, beispielsweise mit Lücken im Bildungsangebot, einer teilweise vorhandenen Unübersichtlichkeit und Intransparenz der Lernmöglichkeiten, Qualitätsdefiziten oder unzureichenden Fördermöglichkeiten. Um diese Defizite zu bearbeiten, gibt es verschiedene Interventions- und Gestaltungsbereiche wie Finanzierung, Recht oder Supportstrukturen (etwa Information und Beratung), die es zukünftig noch stärker in öffentlicher Verantwortung zu nutzen gilt.
Den Aus- und Weiterbildenden erscheinen solche systemischen und politischen Fragen bisweilen als weit entfernt vom eigenen beruflichen Handeln. Allerdings wird das alltägliche berufliche Handeln durch die strukturellen und institutionellen Gegebenheiten erheblich beeinflusst. Eine Auseinandersetzung mit politischen, rechtlichen oder finanziellen Fragen trägt also dazu bei, sich des eigenen Handlungsrahmens zu vergewissern. Leitend kann dabei die Frage sein: Welche politischen und juristischen Faktoren beeinflussen die Strukturen und Institutionen des Lernens in der Weiterbildung, in denen ich tätig bin? Es geht für Lehrende, Planende und Beratende in der Weiterbildung und solche, die es werden wollen, darum, ihr eigenes Selbstverständnis in Bezug auf Politik, System und Recht der Weiterbildung zu klären sowie darauf aufbauend Handlungsmöglichkeiten einzuschätzen und zu entwickeln. Vorliegender Text gibt nur einen Anstoss dazu, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.
Obwohl die Bedeutung der Erwachsenen- und Weiterbildung – aktuell besonders unter dem Stichwort des lebenslangen Lernens – inzwischen seit Jahrzehnten zumindest programmatisch hervorgehoben wird, ist diese Bedeutung im Zuge der gesellschaftlichen Debatte um die Digitalisierung noch einmal gestiegen. Es gibt kaum eine Stellungnahme zur Bedeutung und zu den gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung ohne den drängenden Hinweis, dass permanentes Lernen und kontinuierliche Weiterbildung essentiell seien, um den Wandel durch Digitalisierung bewältigen zu können. Im Vordergrund steht hier zumeist die Debatte darum, wie Arbeit sich wandelt und welche Kompetenzen Beschäftigte benötigen.
Im Zuge der Digitalisierung wird jedenfalls noch klarer, dass eine Front-loading-Vorstellung von Bildung unhaltbar ist, also die Vorstellung, man könne sich auf eine Ausstattung mit Bildung in jungen Jahren allein verlassen, die dann bis zum Ende zumindest des Erwerbslebens trägt. Es geht vielmehr darum, ein System des lebenslangen Lernens zu etablieren, das allen Menschen ermöglicht, sich nach ihren Interessen, Bedürfnissen und Bedarfen über die Lebensspanne weiterzubilden. Dabei gilt es, die Diskrepanz zwischen der Betonung der Wichtigkeit von Weiterbildung und realer Implementation weiter zu verringern. Hierzu gibt es vielfältige Initiativen zum lebenslangen Lernen auf europäischer und nationaler Ebene, die aber mit Blick auf die Lernenden deutlicher profiliert und ausgebaut werden müssten – einige davon skizziert im folgenden Kapitel.
2.2Lebenslanges Lernen
«Heute kommt es nicht so sehr darauf an, was man kann, sondern was man gelernt hat.»
F.W. Bernstein, 1991
«Wirst alt wie Kuh – lernst imma zu.»
Gerhard Polt, 2000
Das Memorandum der EU zum «lebenslangen Lernen»
Basis der europäischen Weiterbildungspolitik ist nach wie vor das «Memorandum zum Lebenslangen Lernen» (verabschiedet von der EU-Kommission im Jahre 2000) und das Bekenntnis zur Wissensgesellschaft, an dem alle EU-Bürger teilnehmen können sollen; dazu gehört unter anderem die Optimierung der «Weiterbildung vor Ort» sowie der bessere Zugang zu hochwertigen Informations- und Beratungsmöglichkeiten. «Adult Learning» ist dabei ein zentrales Programm. Dabei zeigt sich der Trend, dass Weiterbildung enger auf berufliche Verwertbarkeit hin diskutiert wird. Gemäss dem «Lissabon-Prozess» ist mehr Investition in Humankapital durch bessere Bildung beabsichtigt, die EU möchte mit Hilfe einer Bildungsoffensive zur weltweiten Wirtschaftsführerin werden.
Der Gedanke einer lebenslangen Bildungsphase ist in der umfassenden Bildungsreform Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre entstanden. Die OECD, die UNESCO und der Europarat prägten die Begriffe «lifelong education», «recurrent education» und «éducation permanente». Das Konzept der «éducation permanente» (vgl. Aebi 1995, S. 52, Gonon 2001, S. 56) entstammt ursprünglich der französischen Kulturtradition und ist den Ideen der Aufklärung verpflichtet; der Begriff wird als Anliegen anfangs der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts von UNESCO und Europarat verwendet.
Der Begriff «recurrent education» – von der OECD geprägt – entstammt der angelsächsischen Tradition (vgl. Aebi 1995, S. 53). Dabei sollen spezifische (Nach-)Qualifikationen es ermöglichen, den veränderten Anforderungen am Arbeitsplatz gerecht zu werden. Von der Europäischen Union wurde der Begriff des lebenslangen Lernens mit dem Memorandum als ein neuer Hauptbegriff deklariert. Die permanente Anpassung der Qualifikationen der arbeitenden Menschen an neue Techniken und auch kulturelle Anforderungen tragen dem internationalen Konkurrenzdruck Rechnung. Das Grundkonzept des lebenslangen Lernens geht davon aus, dass nur Menschen, die ihr ganzes Leben lang lernen und sich weiter qualifizieren, in der Lage sind, die raschen Veränderungen kompetent zu meistern. Lebenslanges Lernen beinhaltet ebenso, dass die Lernenden die lebenslange Lernperspektive ihres Lernprozesses selber lenken. Die Bildungssysteme des lebenslangen Lernens werden somit nicht mehr nur von Institutionen und Bildungsanbietern definiert, sondern auch von denjenigen Personen, die lernen (Nachfrage-Orientierung). Beim lebenslangen Lernen geht es darum, dass das Individuum entsprechend seinem individuellen Lebensentwurf und seiner Biografie die Lerninhalte definiert und wählt. Dazu braucht es neue und strukturierbare Angebote mit freien Zugängen. Entsprechend rücken Fragen nach individuellen Lernformen und der persönlichen Gestaltung von Lernprozessen in den Vordergrund.
Das Konzept des lebenslangen Lernens stellte einen Paradigmenwechsel in der Weiterbildung dar und bedingte eine strukturelle Veränderung des bisherigen Bildungssystems. Es erfordert nach wie vor neue Bezüge zwischen den einzelnen Bereichen des Bildungssystems, sowohl bezüglich Lerninhalten, Gestaltung der Angebote als auch bezüglich Übergängen, Zugängen und des Aufbaus von Wissen, Qualifikationen und Fähigkeiten.
Politische Umsetzung in Europa
2008 haben das Europäische Parlament und der Rat eine Empfehlung zur Einrichtung des Europäischen