Ich lächelte mein Spiegelbild an. Was, wenn ich das Ganze wirklich wie ein Abenteuer sah, wie eine Quest, eine Mission in einem Computerspiel? Statt Drachen würde ich Prinzen jagen, und die Prinzessin, die sich befreite, war ich selbst.
Ein Grummeln meines Magens übertönte die Elektro-Swing-Musik, die durch die Türen des Waschraums drang. Mir fiel ein, dass ich nichts mehr gegessen hatte, seit ich mich am Nachmittag in eine kleine Sushibar bei der Oxford-Street verirrt hatte. Ich ging zur Bar, kaufte mir ein paar Erdbeeren in Schokolade und ein Glas Sekt, und setzte mich auf einen der alten Hocker. Langsam führte ich eine Erdbeere zum Mund. Zuerst schmolz die Schokolade auf meiner Zunge und überzog die Papillen mit einer weichen Schicht aus Fett und Kakao, dann schmeckte ich das süßherbe Fruchtaroma. Ich seufzte, griff nach einer weiteren Erdbeere und bemerkte dabei einen Mann, der an der Wand neben der Bar stand und mich anstarrte. Er war kaum größer als ich, und mit seiner Cargohose und seinem schwarzen T-Shirt schien er so gar nicht zur den prachtvoll hergerichteten Burlesque-Fans zu passen. Er bemerkte zuerst gar nicht, dass ich ihn ansah. Seine Augen schienen an meinem Mund zu kleben, als könnte er es gar nicht erwarten, bis ich abbiss. Ich tat ihm den Gefallen, und er verzog lustvoll sein Gesicht. Die Schluckbewegung seines Adamsapfels konnte ich sogar im Dämmerlicht der Bar ausmachen.
Der Blick des Mannes traf meinen. Er grinste, und ich fragte mich, was die fetten Liebesgöttinnen, die in ihren Korsetts und auf ihren Stilettos durch den Burlesque-Club glitten, jetzt tun würden.
Ich stand auf und schlenderte zu ihm hinüber. Ich war mir dabei seines Blickes bewusst, der über meinen Körper glitt. »Beobachtest du gerne Frauen beim Essen?«, fragte ich ihn.
»Nur, wenn sie dick sind«, sagte er mit einem Akzent, der für mich schottisch klang.
»Wieso das denn?«
»Schau mich nicht so zweifelnd an. Ich bin ein Fat Admirer. Ich vergöttere Rundungen wie deine.« Er streckte mir seine Hand entgegen, die mir ziemlich schmal vorkam. An sich selbst schien er Fett weniger zu bewundern, dachte ich.
»Jeffrey MacAlpine.«
Also wirklich ein Schotte.
»Ich bin hier Bühnenmanager und beobachte dich schon eine ganze Weile vom Backstagebereich aus. Willst du mal sehen, wie es hinter den Kulissen zugeht?« Er deutete auf meine Erdbeeren. »Dort finden wir auch sicher noch etwas zu essen für dich.«
Die alte Romy hätte so ein Angebot entschieden abgelehnt. Ich war aber auf einer Quest, also zwang ich mich, den Anfall von Schüchternheit und Unsicherheit zu überwinden, der mich bei seinem Angebot überkam. Ich biss in eine Erdbeere. »Ich verabschiede mich nur schnell bei meinen Freunden, dann kannst du mich in dein Reich entführen«, sagte ich.
Kurz darauf saß ich hinter der Bühne in einem Kämmerchen zwischen Kabeln, Lampen und Kisten, aus denen Federn, Jonglierbälle und glitzernde Stoffballen quollen. Auf einem kleinen Tischchen zwischen Jeffrey und mir drängten sich eine große Teekanne, Teller, Tassen, Milch- und Oberskännchen und eine Etagere voller Sandwiches, Törtchen und anderer Häppchen, die er irgendwo aufgetrieben hatte.
»Willst du die Scones probieren?«, fragte Jeffrey. »Am besten schmecken sie mit Marmelade und clotted cream.«
Ich nahm mir einen Scone, bestrich ihn mit der steifen Oberscreme und Erdbeerkonfitüre und biss hinein. »Herrlich«, sagte ich.
Jeffrey nippte an seinem Tee ohne Milch und ohne Zucker. »Du hörst sicher von vielen Männern, wie hübsch du bist«, sagte er. Dabei beugte er sich vor, wischte mir etwas Obers aus dem Mundwinkel und ließ seinen Blick tiefer in mein Dekolleté gleiten, in das sich ein paar Brösel verirrt hatten. »Probier auch die Sandwiches«, sagte er.
»Was ist mit dir?«, fragte ich. »Hast du gar keinen Hunger?«
»Für mich ist es Vergnügen genug, dich essen zu sehen.«
Das höre ich zum ersten Mal von einem Mann, dachte ich. Harry, meinem ersten Liebhaber, war mein Appetit herzlich egal gewesen, und Bert, mein zweiter, hatte es lieber gesehen, wenn ich hungerte und trainierte. Langsam führte ich meinen Zeigefinger zum Mund und lutschte einen Marmeladerest ab. Jeffreys Wangen hoben sich, und seine Lider sanken halb über seine Pupillen.
Interessant, dachte ich. »Du beobachtest also gerne runde Frauen beim Essen?«
»Ja«, sagte Jeffrey. »Ich liebe es auch, wie der Stoff ihrer Kleider sich über ihre Kurven spannt, über ihre Hintern und Schenkel und Bäuche. Von dir könnte gerne noch ein bisschen mehr da sein. Ich war mal mit einer Supersize Big Beautiful Woman zusammen, gegen die bist du ein Federchen.«
Ich sah ihn überrascht an. Zu dünn hatte mich bisher noch niemand gefunden. »Was genau findest du an dicken Frauen so aufregend?«
»Es gibt Freuden, die einem Mann nur ein dicker Körper schenken kann«, sagte Jeffrey.
Ich fragte mich, ob er vom Körpergefühl redete, oder von speziellen Praktiken. Bei meinen Recherchen hatte ich allerdings keine Hinweise auf unterschiedliche Spielarten gefunden. Die Darsteller der Erotikclips hatten Sex wie andere auch, nur dass sie auf besonders akrobatische Einlagen verzichteten. »Was genau meinst du damit?«
»Das sollte ein Mann einer Frau nicht erzählen, sondern zeigen«, sagte Jeffrey. »Zerreden zerstört den Zauber.«
Konnte ich mir vorstellen, mir von ihm zeigen zu lassen, was genau er meinte? Jetzt, wo ich ihn etwas genauer betrachtete, erinnerte Jeffrey mich ein bisschen an eine britische Version von Christian, mit den rostroten Haaren, den Sommersprossen und dem langen, dünnen Bubengesicht. Als er mich mit den Fingerspitzen berührte, war ich überrascht, wie kühl seine Hand war, trotz der Hitze in dem engen Kämmerchen.
Ich nahm ein üppig mit Karamellcreme verziertes Törtchen vom Tisch und biss hinein. Eine Mischung aus geschmolzenem Zucker und weichem, flauschigem Biskuit überzog meine Zunge und ließ mich vor Wonne seufzen. Jeffreys Mundwinkel verzogen sich nach oben, und sein Blick klebte an meinen Lippen. Zwischen meinen Beinen wurde es warm und feucht. Der Gedanke, dass ich noch heute etwas lernen konnte, über meinen Körper, meine Sinnlichkeit, über mich, faszinierte mich mehr und mehr.
»Ich kenne einen Ort, wo es gemütlicher wäre als hier«, sagte Jeffrey.
»Ach ja?«
Er grinste. »Wesentlich gemütlicher.«
Mein Bauchgefühl riet mir dazu, nichts zu übereilen. Dummes Bauchgefühl, dachte ich. Es hatte mich vier Jahre an Christian verschwenden lassen. »Klingt gut«, sagte ich.
Keine halbe Stunde später nahm Jeffrey mir in seiner Wohnung den Mantel ab. Ich fühlte mich mutig, verwegen, fast wild. Trotzdem hatte ich Olga auf dem Weg hierher, unterwegs durch die ruhigen Wohnstraßen von Bethnal Green, eine SMS mit Jeffreys Adresse geschickt, als kleine Vorsichtsmaßnahme.
Jeffrey verschwand in der Küche und ich sah mich in seinem Wohnzimmer um. Mir fielen ein Regal auf, das vor lauter Kochbüchern überquoll, und ein Barhocker, dessen Beine aussahen, als hätte Jeffrey unten ein Stück abgesägt. Vielleicht war ihm der Hocker einfach zu hoch gewesen, dachte ich, ein mythischer Riese war er ja nicht gerade.
Ich setzte mich auf die Couch und zupfte meinen Rock zurecht, so, dass der Stoff nach oben rutschte und meine Knie und den unteren Rand meiner Oberschenkel freilegte. Mal sehen, was der Abend so bringen wird, dachte ich.
Jeffrey brachte eine Kanne Tee und einen Teller voller Sandwiches, die nicht so aussahen, als hätte er sie selbst gemacht. »Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, hätte ich natürlich etwas gekocht«, sagte er. Er nahm meine Hand und streichelte sie. »So hübsche,