Wir versuchen, die Gesellschaft aus der Sicht der Logik der Wirtschaft zu erklären – das erweist sich aber als Illusion!
Als weiteres Element der Komplexität führt NASSEHI (2017) an, dass der angestrebte Umbau der Gesellschaft dazu führt, dass diese sofort auf die Eingriffe reagiert. Damit sind diese Aktivitäten immer unterkomplex, sie schaffen neue Konstellationen, die wiederum Interessengruppen auf den Plan rufen. Wie gehen wir aber mit dieser Komplexität [31] um, schließlich müssen wir uns irgendwie zurechtfinden? NASSEHI (2017) präsentiert eine verblüffende Einsicht: Wir versuchen, die Gesellschaft aus der Sicht der Logik der Wirtschaft zu erklären und die Ökonomie für gesellschaftliche Fehlentwicklungen verantwortlich zu machen. Folglich wird der Kapitalismus an den Pranger gestellt, freie Märkte werden reguliert, «Big Data» wird als Mittel der Revitalisierung der Planwirtschaft angepriesen. Dies alles in der Erwartung, damit eine Komplexitätsreduktion zu erreichen und schließlich unsere gesellschaftlichen Verwerfungen interpretieren und bewältigen zu können. Dies erweist sich aber als Illusion, da auch die Wirtschaft ähnlich komplex ist wie die Gesellschaft, nach gleichen Gesetzmäßigkeiten funktioniert und nicht dadurch prognostizierbar wird, dass man mit deterministischen Modellannahmen arbeitet.
Die Wirtschaft ist auch ein «komplexes adaptives System» – eher ein Ökosystem als eine Maschine – und kann nicht komplett durchschaut, verstanden oder kontrolliert werden.
So ortet der Chairman des Economic and Development Review Committee der OECD, William WHITE (2018), die Hauptursache der steigenden globalen Verschuldung in einem mangelnden Verständnis für die wirtschaftlichen Zusammenhänge. Er kritisiert die Annahme, dass die Struktur der Wirtschaft sowohl durchschau- als auch beherrschbar sei. Dies ist populär, aber falsch, wirtschaftliche Systeme weisen emergente Eigenschaften auf, und es gibt kein Gleichgewicht in solchen Systemen. Wie die Gesellschaft besteht die Wirtschaft aus verschiedenen Sektoren mit jeweils unzähligen Akteuren. Diese verfolgen ihre Ziele individuell nach einfachen Regeln, und Wechselwirkungen und Rückkoppelungseffekte führten zu unerwarteten Ergebnissen oft nicht linearer Natur.
Wie die Gesellschaft und die Wirtschaft weisen Unternehmen Eigenschaften auf, die deren Steuerung oder gar «Beherrschung» verunmöglichen. Unternehmen sind grundsätzlich komplex, wenn auch nicht so stark von Interessengruppen getrieben wie die Gesellschaft oder die Wirtschaft. Aber auch hier gibt es keinen Königsweg auf der Basis stark vereinfachender Managementansätze und -modelle. Dies wird im Verlauf dieses Buches aus verschiedensten Perspektiven zu illustrieren sein.
Im Unternehmenskontext erweist sich die «Helikoptersicht» als bewährtes Vorgehen bei der Umsetzung des Prinzips der russischen Puppen. Bevor Führungskräfte eine Problemsituation in Angriff nehmen, steigen sie – bildlich gesprochen – zuerst in den Helikopter und erheben sich hoch über das Gelände. Von dort sehen sie das Unternehmen eingebettet in die Gesellschaft und die Wirtschaft. Sie gewinnen Einsicht in die großen Zusammenhänge und können sich erste Gedanken über ihre Handlungsoptionen [32] machen. Dann landen sie mit dem Helikopter an einem genau spezifizierten Standort – beispielsweise dem Marketing – und gewinnen dort eine umfangreiche Bodenprobe. Diese nehmen sie wieder in ihrem Helikopter auf jene Flughöhe mit, die eine Interpretation der gewonnenen Daten im größeren Kontext von Unternehmen, Wirtschaft und Gesellschaft erlaubt.
Das Prinzip der russischen Puppen wird in Kapitel 2 ausführlich zur Anwendung kommen. Das Viable System Model (BEER, 1972), das dort als Landkarte der reflektierenden Praktiker vorgestellt wird, hat die Eigenschaft der Rekursivität. Ein lebensfähiges System besteht aus Subsystemen, die ihrerseits ebenfalls die Eigenschaft der Lebensfähigkeit aufweisen.
Für das Denken und Handeln der reflektierenden Praktiker bedeuten diese Erkenntnisse Folgendes:
— Gewinne aus «Helikoptersicht» einen Überblick über die Einbettung der Führungssituation!
— Betrachte die Zusammenhänge von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen durch die verbindende «Komplexitätsbrille»!
— Verstehe deine Handlungsoptionen als Eingriffe in unvorhersehbar reagierende Gebilde!
— Vermeide Scheinlösungen durch unzulässige Vereinfachungen deiner Grundannahmen und Denkmodelle!
Denkmuster 3: Die Einheit von Freiheit und Verantwortung
Eigenverantwortung, Leistungsbereitschaft, Respekt vor privatem Eigentum, freier Wettbewerb und Mut zum Risiko sind Eigenschaften einer liberalen Weltsicht, wie sie in diesem Buch vertreten werden. Wir machen uns dabei die Argumente von Karl POPPER («Die offene Gesellschaft und ihre Feinde», Nachdruck 2003), Friedrich von HAYEK («Der Weg zur Knechtschaft», Nachdruck 2003) und Isaiah BERLIN («Freiheit», 1969) zu eigen. Kern ist ein freiheitliches Menschenbild, das ein ausgewogenes Verhältnis von Rechten und Pflichten umfasst. Der Staat darf die Freiheit des Einzelnen nur beschränken, wenn diese die Freiheit und die Sicherheit Anderer bedroht. Der Staat übernimmt im liberalen Weltbild die Verantwortung für die Bereiche der Sicherheit, der Bildung, der Infrastruktur und der Sozialleistungen. Dies im Gegensatz zur libertären Geisteshaltung, die staatliche Aktivitäten weitestgehend zurückdrängen möchte.
Das liberale Welt- und Menschenbild ist im Rückzug begriffen. Umso mehr müssen reflektierende Praktiker die sich durch den Wandel ergebenden Freiräume verantwortungsvoll nutzen. [33]
Wie eingangs erwähnt, schafft der digitale Wandel Freiräume, die noch nicht gesetzlich reguliert sind. Um diese Freiräume kämpfen nicht nur Unternehmen, auch der Staat möchte diese baldmöglichst besetzen. Man kann in diesem Zusammenhang von einer zeitlich begrenzten «Zone der staatlichen Willkür» sprechen. Diese Freiräume verschaffen Unternehmen bei geschickter Nutzung Wettbewerbsvorteile, vor allem für die «early movers». Diese sind aber nur nachhaltig, wenn sie verantwortungsvoll genutzt werden. Denn nur dann wird dem Staat kein Anlass gegeben, regulatorisch einzugreifen. Voraussetzung für ein grundlegendes Verständnis dieser Zusammenhänge ist eine zeitgemäße Interpretation der liberalen Weltsicht.
Ausgangspunkt für solche Überlegungen sind gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklungen, wie Globalisierung, Individualisierung, Nachhaltigkeit und internationale Regulierung. Sollen diese im Geiste des Liberalismus als Chance und nicht als Gefahr gesehen werden, so müssen die liberalen Werte gestärkt und allenfalls neu ausgerichtet werden, und dies in den vier Bereichen: Gemeinschaft, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik (GOMEZ, 2015). Die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft wurde bereits im 19. Jahrhundert vom Soziologen Ferdinand TÖNNIES (1887/2005) eingeführt. Gemeinschaft bezeichnet das reale und organische Leben in Familie, Nachbarschaft und Verein. Voraussetzung dafür ist der Gemeinsinn. Gesellschaft hingegen entsteht durch ideelle Bindung von sich «Fremden» durch formale Regeln und abstrakte Vorgaben. Diese erst ermöglichen ein Leben in Freiheit. Gemeinschaft und Gesellschaft befinden sich in steter Interaktion mit Wirtschaft und Politik. Wirtschaft ermöglicht Fortschritt, und Politik sichert die Zukunftsfähigkeit. Erst das Zusammenspiel dieser Kräfte aber ermöglicht wahrhaft liberales Denken und Handeln (vgl. zum Folgenden GOMEZ, 2015, 25).
Chancen für unternehmerische Freiräume ergeben sich in der Gemeinschaft, in der Gesellschaft, in der Wirtschaft und in der Politik. Was bedeutet es, diese verantwortungsvoll zu nutzen?
Ist in der heutigen Zeit Gemeinsinn überhaupt noch aktuell? Fragt man die junge Generation, was in ihrem Leben das Wichtigste ist, dann stehen mit Abstand die Freunde und die Familie an der Spitze. Und hierbei spielen das gegenseitige Vertrauen, der Zusammenhalt und die Integrität des Einzelnen die entscheidende Rolle. Ordnet man Gemeinschaft in ein liberales Koordinatensystem (Abb. 1.8) ein, so ist zwischen ihren Voraussetzungen und ihren grundlegenden Werten zu unterscheiden. Voraussetzungen sind sozialer Friede und Sicherheit, grundlegende Werte das gegenseitige