Der Begriff des reflektierenden Praktikers wurde zu Beginn der 1980er-Jahre von Donald SCHON (1984) geprägt. Als stehender Ausdruck bezeichnet er Frauen und Männer, die Führungsverantwortung übernehmen. Um dies noch zu unterstreichen, verwenden wir in diesem Buch stets die Mehrzahl: «reflektierende Praktiker». Im Gegensatz zu Expertinnen und Experten sind reflektierende Praktiker in das Unternehmen integriert, sie tragen Verantwortung für ihr Denken und Handeln, sie beeinflussen den Lauf der Dinge. Sie verfügen über großes implizites Wissen – meist Erfahrung genannt –, das sie mit neuen Inhalten kombinieren müssen.
Reflektierende Praktiker machen sich intensiv Gedanken zu den grundlegenden Zusammenhängen ihrer Führungssituation. Für den digitalen Wandel heißt dies beispielhaft, dass sich technologische Entwicklungen zwar zu einem gewissen Grad prognostizieren lassen (siehe «Moore’s Law», MOORE, 1965), die möglichen Anwendungen jedoch voller Überraschungen sind, oder anders ausgedrückt: Hier liegen die Wettbewerbsvorteile innovativer Unternehmen. Reflektierende Praktiker lassen sich nicht von den Versprechungen der technologischen Entwicklung blenden, sondern haben stets das eigene Unternehmen im Blick. Sie wissen, dass sich Anwendungen nicht prognostizieren lassen, sondern dass sie selber die Zukunft gestalten müssen. Und sie sind sich bewusst, dass sie mit ihren Eingriffen in das Unternehmen dieses nicht nur verändern, sondern dass es darauf reagiert, und zwar auf oft unvorhersehbare Weise. Das bedeutet, dass sie ihr «internes Modell» laufend anpassen, d. h., über ihre Reflexion reflektieren. Ganz entscheidend ist schließlich die Fähigkeit, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Implikationen des digitalen Wandels und deren Auswirkungen auf das Unternehmen zu verstehen. [20]
Reflektierende Praktiker – Frauen und Männer, die ihre Führungsaufgabe ganzheitlich wahrnehmen – haben eine umfassendere Sicht als Experten, sie sind für ihr Unternehmen und ihre Mitarbeitenden verantwortlich.
Reflektierende Praktiker stellen sich somit – im Gegensatz zu Experten – zum digitalen Wandel die folgenden Fragen:
— Experten: Welche neue Technologie könnte für das Unternehmen vorteilhaft sein?
Praktiker: Welche Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich aus der neuen Technologie für mein Unternehmen? Welche bisher nicht existierenden Märkte entstehen neu?
— Experten: Wie kann die neue Technologie bestmöglich im Unternehmen eingesetzt werden?
Praktiker: Wie reagiert mein Unternehmen auf den durch die neue Technologie notwendigen Umbau?
— Experten: Welchen wirtschaftlichen Erfolg erzielt das Unternehmen durch die Anwendung der neuen Technologie?
Praktiker: Welche Vorteile ergeben sich zusätzlich für meine Mitarbeitenden und für das Gemeinwohl?
In ähnlicher Weise argumentiert Nicholas TALEB (2018) mit dem Begriff des «Skin in the Game», dass die eigene Haut auf dem Spiel stehen muss. Reflektierende Praktiker verfügen über Führungswissen und -erfahrung sowie ein passendes Instrumentarium für wirkungsvolles Handeln. Vor allem aber verfügen sie über einen kreativen Zugang zu neuartigen Problemsituationen.
Reflektierende Praktiker müssen ganz spezifische Denkmuster entwickeln, um der Komplexität des digitalen Wandels gewachsen zu sein. Im Folgenden werden fünf solche Denkmuster vorgestellt und in ihrer praktischen Anwendung illustriert.
Denkmuster für die verantwortungsvolle Führung des Wandels
Neuartige Problemsituationen, wie sie sich beim digitalen Wandel zunehmend stellen, erfordern einen kreativen Zugang beim Erkennen der großen Zusammenhänge und bei der Bewältigung der anstehenden Komplexität. Wegleitend ist dabei die Einsicht, dass [21] es keine unternehmerische Freiheit ohne gesellschaftliche Verantwortung geben kann und dass das Wohlergehen der Menschen stets im Mittelpunkt des Denkens und Handelns der reflektierenden Praktiker stehen muss.
Verantwortung übernehmen wird oft verstanden als «antworten können», «legitime Erwartungen erfüllen» oder «die Einheit von Handlung und Haftung sicherstellen». Wir wählen mit unseren Denkmustern einen etwas anderen Zugang, indem wir den reflektierenden Praktikern einen normativen Rahmen bereitstellen.
Verantwortungsvolles Führen zeigt sich für uns darin, dass eine Führungskraft die Denkmuster beachtet und ganz im Sinne praktischer Weisheit und mit gesundem Menschenverstand in der Praxis zur Anwendung bringt.
Unsere Arbeitshypothese lautet, dass sie in ihrer Führungspraxis bessere Resultate für sich und andere erzielen, wenn sie mit den Denkmustern operieren und ihre Aufmerksamkeit damit lenken.
Fünf Denkmuster charakterisieren verantwortungsvolle Führung:
— Die optimale Vereinfachung von Komplexität
— Die Perspektive der russischen Puppen
— Die Einheit von Freiheit und Verantwortung
— Im Zentrum der Mensch
— Die ganzheitliche Erfolgsmessung
Denkmuster 1: Die optimale Vereinfachung von Komplexität
Komplexität erkennen, abbilden und bewältigen – diese drei Phasen durchlaufen reflektierende Praktiker, wenn sie mit schwierigen Problemstellungen konfrontiert sind. Dabei müssen sie folgende Fragen beantworten:
— Ist das Problem tatsächlich komplex?
— Lassen sich in der Komplexität Muster erkennen, und welches ist die optimale Vereinfachung der Problemsituation?
— Wie können die eigenen Optionen der Problembewältigung erweitert werden?
Ausgangspunkt ist die Unterscheidung von einfachen, komplizierten und komplexen Problemen. Einfache Probleme sind durch eine geringe Anzahl von Einflussgrößen und Beziehungen charakterisiert, sie lassen sich analytisch lösen. Der Großteil der täglichen [22] Führungsaktivitäten fällt in diesen Bereich. Bei komplizierten Problemen steigt die Zahl der Einflussgrößen und der Beziehungen an. Die Art der Verknüpfung bleibt aber über die Zeit unverändert. Logistische Probleme gehören beispielsweise in diese Kategorie, mit der notwendigen Ausdauer findet sich letztlich eine optimale Lösung. Bei komplexen Problemen ändern sich im Zeitablauf nicht nur die Einflussgrößen und Beziehungen, sondern auch das Verknüpfungsmuster ist dynamisch. Die Entwicklung der Gesellschaft und der Wirtschaft gehört in diese Kategorie, genauso wie Wertschöpfungsprozesse von Unternehmen, bei welchen die Grenzen zwischen Lieferanten, Unternehmen und Kunden neu gezogen oder gar erfunden werden müssen.
Die Unterscheidung von komplizierten und komplexen Problemen ist nicht nur ein Sprachspiel, sondern Voraussetzung für einen kompetenten Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit.
Diese Zusammenhänge sind in Abb. 1.4 festgehalten.
Abbildung 1.4 Einfache, komplizierte und komplexe Probleme
Je nachdem, ob ein Problem als kompliziert oder als komplex identifiziert wird, kommen unterschiedliche Denkweisen und Methoden zum Zug. Als verhängnisvoll erweist es sich [23] im Unternehmensalltag, wenn komplexe Probleme mit dem für komplizierte Probleme vorgesehenen Instrumentarium angegangen werden, sei es aus mangelndem Verständnis für Komplexität oder aus sturem Festhalten an gewohnten Methoden. Dass hiervon auch die akademische Welt nicht verschont bleibt, sei nur am Rande erwähnt. Eine exakte Identifikation und Akzeptanz von Komplexität ist aber für das weitere Vorgehen unerlässlich.
Wenn sich komplexe Problemsituationen als Folge der dynamischen Entwicklung der Teile und ihrer Verknüpfungen nicht vollständig erfassen lassen, stellt sich natürlich