Auf der rechten Seite der Abb. 1.7 sind Ansatzpunkte der Varietätsgenerierung durch das Management festgehalten. Die Forschung zu Komplexität und Selbstorganisation stellt auch hier eine Vielzahl von Hinweisen für die Unternehmensführung bereit. «Tipping Points» sind Ansatzpunkte, bei denen mit relativ kleinen Eingriffen eine große Wirkung erzielt wird (GLADWELL, 2006). Hierarchische Organisationsformen dominieren immer noch unsere Wirtschaft. Aber auch die Natur lehrt uns – wie bereits im Prolog gezeigt –, dass in vielen Fällen eine lose Kopplung gegenüber starren Strukturen viele Vorteile hat. In der digitalen Welt verliert das Modellieren stetig an Bedeutung, an seine Stelle tritt das Experimentieren. Pilotversionen werden im Markt getestet und stetig weiterentwickelt, bis das fertige Produkt stimmig ist. Und schließlich gewinnt der gezielte Einbau von Fehlern zunehmend an Bedeutung, um die Anpassungsfähigkeit (Resilienz) zu testen. [28]
Gravierende Unfälle sind oft das Resultat der Kombination von hoher Komplexität und starker Kopplung.
Zur Abrundung dieses Denkmusters soll die Anwendung des Gesetzes der erforderlichen Varietät am Beispiel der Vermeidung von Großunfällen illustriert werden. Wie bereits in Abb. 1.2 zu den Gefahren des Internets der Dinge illustriert, sind viele gravierende Unfälle, die meist durch relativ kleine Fehler ausgelöst werden, das Resultat des Zusammenspiels von Komplexität (linke Seite der Gleichung) und Kopplung (rechte Seite der Gleichung). Wenn die Komplexität zunimmt, ergibt sich eine Vielzahl neuer Teile. Sind diese eng miteinander gekoppelt, beispielsweise durch bereichsübergreifende Prozesse, so erfolgt auch bei kleinen Fehlern eine Kettenreaktion, die das Ganze unkontrollierbar macht. Wenn ein Unternehmen komplexer wird, so versucht das Management oft intuitiv, diesem Trend durch Zentralisierung zu begegnen. Dies ist aber genau die falsche Reaktion. Um die Kontrolle zurückzugewinnen, muss bei der Gestaltung solcher Systeme die Komplexität so einfach wie möglich gehalten werden (Varietätsreduktion), und die Kopplung muss lose sein (Varietätsgenerierung).
Die Ausführungen zum ersten Denkmuster der Komplexitätsbewältigung sollen mit einigen Beobachtungen aus einer etwas ungewohnten Sicht abgeschlossen werden. Komplexität ist keine objektive Eigenschaft eines Systems, sondern abhängig von der Perspektive und damit der Systemabgrenzung des Beobachtenden. Führungskräfte können Komplexität aufbauen, sei es durch schieres Unvermögen oder durch bewusste Manipulation. Ersteres hat als Ursache meist mangelnde methodische oder Sachkompetenz. Eine konsequente Umsetzung der Erkenntnisse zum ersten Denkmuster (siehe unten) kann hier weiterhelfen. Etwas anders liegt der Fall bei der Manipulation. CLEARFIELD und TILCSIK (2018, 67) führen als Beispiel das Unternehmen Enron an. Das Unternehmen baute Modelle, um den «wahren» Wert ihrer Vermögenswerte zu ermitteln. Bei Großprojekten trafen sie Annahmen, welche Einkünfte sie über die kommenden Jahre generieren könnten. Diese verbuchten sie als unmittelbare Geldflüsse, ohne solche je erzielt zu haben. Damit manipulierten sie den Aktienkurs und schließlich auch die Boni. Dieses sogenannte «mark-to-market accounting» (den Marktwert ansetzen) erhöhte nicht nur die Komplexität, sondern macht aus Enron ein eng gekoppeltes System – mit den bekannten Konsequenzen des Bankrotts.
CLEARFIELD und TILCSIK (2018) argumentieren weiter, dass Sicherheitssysteme oft die wichtigste Quelle von Systemversagen seien. Diese Systeme weisen meist einen so hohen Komplexitätsgrad auf, dass die Verantwortlichen dadurch völlig absorbiert werden und die einfachen Gefahrensignale ignorieren. Denn jedes komplexe System produziert schwache Signale, wenn es aus dem Ruder zu laufen droht. Wie diese entdeckt werden können, wird in Kapitel 4 gezeigt. [29]
Für das Denken und Handeln der reflektierenden Praktiker bedeuten diese Erkenntnisse Folgendes:
— Unterscheide zwischen komplizierten und komplexen Problemen, und richte dein Vorgehen auf deren spezifische Charakteristika aus!
— Lasse dich nicht von «Big Data» zu einer reduktionistischen Sicht komplexer Probleme verleiten!
— Gehe komplexe Probleme stets im Geiste des «Gesetzes der erforderlichen Varietät» an, die Gleichung von Varietätsreduktion und Varietätsgenerierung muss aufgehen!
— Lerne von der Natur den geschickten Umgang mit Komplexität!
— Vermeide zerstörerische Kettenreaktionen – sorge für lose Koppelung in komplexen Systemen!
Denkmuster 2: Die Perspektive der russischen Puppen
Unternehmerische Aktivitäten spielen sich nicht im luftleeren Raum ab, sie sind in gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenhänge eingebettet. Die Gesellschaft – oder präziser die Zivilgesellschaft – führt auf der Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen durch formale Regeln und abstrakte Vorgaben Individuen zusammen, die sonst keine enge Beziehung zueinander haben. Die Wirtschaft als Teil der Gesellschaft regelt die Austauschbeziehungen in Form von idealerweise freien Märkten. Beide zusammen geben so den Rahmen jeglicher unternehmerischen Tätigkeit vor. Unternehmen schließlich nutzen diesen Spielraum, um als kleinste produktive Einheiten zur Sicherstellung des Wohlergehens des größeren Ganzen beizutragen.
Weitere Teile der Gesellschaft – wie etwa der Staat, die Wissenschaft, die Kultur – üben einen prägenden Einfluss auf die Unternehmen aus. Hier soll aber vorerst der Fokus auf das Zusammenspiel von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen gelegt werden. Dieses gestaltet sich nach dem Prinzip der russischen Puppen – «Matrjoschka», aus Holz gefertigte, bunt bemalte, ineinander schachtelbare Puppen. In ihren Grundzügen sind sich diese drei Systeme sehr ähnlich, aber sie können nur in ihrer gegenseitigen Abhängigkeit verstanden werden.
Die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Unternehmen sind komplexe Systeme, sie setzen Wertvorstellungen um, sie sind im Prinzip dem Gemeinwohl verpflichtet, und sie dienen dem Wohlergehen der Menschen. Diese Eigenschaften bestimmen die Möglichkeiten und Grenzen unternehmerischen Handelns. Aber nur durch eine grundlegende Einsicht in das Zusammenspiel von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen lassen sich die unternehmerischen Spielräume optimal erkennen und nutzen.
Das Denkmuster der russischen Puppen ermöglicht den Zugang zum wichtigsten Bindeglied von Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen: Sie alle sind komplexe Systeme. Diese lassen sich weder analytisch noch statistisch noch mittels «Big Data» vollständig erfassen und abbilden. Sie zeichnen sich durch Eigendynamik aus und lassen [30] sich deshalb nicht prognostizieren. Und sie lassen sich auch nicht direkt steuern oder «managen». Und trotzdem gibt es Wege, sich mit und in ihnen zurechtzufinden.
Armin NASSEHI (2017) charakterisiert auf eindrückliche Weise die Gesellschaft als komplexes System. Sie zeichnet sich durch verteilte Intelligenz aus, wobei eine Vielzahl von eigenständigen Logiken miteinander konkurrieren, ohne dass sie sich aufeinander abbilden lassen. Wirtschaft, Politik, Kultur, Medien, Wissenschaft, Rechtssystem haben ihre eigenen Problemlösungsperspektiven, die sie stets weiter optimieren. Sie definieren sich in ihrer Perspektivendifferenz zu den anderen Bereichen und kämpfen um die «narrative Autorität». Die Lösung (oder besser Bewältigung) für die Gesamtheit der Gesellschaft wichtiger Probleme ist deshalb äußerst schwierig. Nicht nur die Interessen, sondern auch die jeweiligen Sprachen lassen einen Diskurs nicht zu. Der streitbare Philosoph Peter SLOTERDJIK hat dies treffend mit einem Bonmot unter Verweis auf die Systemtheorie des Soziologen Niklas LUHMANN festgehalten:
«Mir kommen die Welt von heute und ihre Debatten mit jedem Tag mehr vor wie ein aus dem Ruder gelaufenes Luhmann-Seminar.» (SLOTERDJIK 2018)
Diese Problematik wird gegenwärtig durch die Erstarkung der «Identity Policy» (FUKUYAMA, 2018) noch verschärft. Die politischen Grenzen zwischen «Links» und «Rechts» verwischen sich zusehends, die Menschen fühlen sich Minoritäten zugehörig und schotten