Verantwortungsvoll führen in einer komplexen Welt. Mark Lambertz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Lambertz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная деловая литература
Год издания: 0
isbn: 9783258481401
Скачать книгу
seine Teile zerlegt und diese analysiert – nicht funktionieren kann, denn es gilt: «Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile.» Oder noch konkreter, das Ganze ist «etwas anderes» als die Summe der Teile.

      Das gilt auch im Zeitalter des «Big Data». Mehr und detailliertere Daten zu den einzelnen Teilen führen nicht zwangsläufig zu einem besseren Verständnis des Ganzen. Oder um es noch deutlicher auszudrücken, wir erleben heute mit «Big Data» oft einen Rückfall in das überwunden geglaubte reduktionistische Denken: «Der Glaube, dass komplexe Systeme verstanden werden können, indem man sie in ihre Teile zerlegt, deren Daten erfasst und diese isoliert studiert» (BRIDLE, 84). Dies führt dazu, dass unter Zeitdruck stehende Führungskräfte Komplexität nicht mehr durch eigene Denkleistung erfassen, sondern diese Aufgabe an Automaten delegieren. Und diese schaffen wiederum zusätzliche Komplexität, womit eine Aufwärtsspirale in Gang gesetzt wird. Mehr denn je ist deshalb eigenes vernetztes Denken gefordert, wie in Kapitel 4 ausführlich zu zeigen sein wird.

      «Big Data» birgt die Gefahr des reduktionistischen Denkens und der Ablösung der eigenen geistigen Kreativität durch Automaten.

      Das Verhalten von komplexen Situationen und Systemen lässt sich grundsätzlich nicht prognostizieren. Führungskräfte müssen sich somit in einer Welt zurechtfinden, die außer ihrer Geschichte wenig Anhaltspunkte für ein künftiges Handeln bereithält. Und gerade die Geschichte erweist sich oft als schlechte Ratgeberin. Technologien lassen sich recht gut voraussehen, sie sind meist dem Bereich des Komplizierten zuzuordnen. Anwendungsmöglichkeiten sind aber immer wieder überraschend, weil sie sich eben aus der Komplexität ergeben.

      Ziel der Erfassung von komplexen Problemsituationen muss stets die optimale Vereinfachung sein. Dies gemäß dem Bonmot von Albert Einstein: «Man soll die Dinge immer so einfach wie möglich sehen, aber nicht einfacher!» Die Gefahren liegen vor allem beim «nicht einfacher», wie wir schon verschiedentlich gezeigt haben. Die unzulässige Reduktion komplexer Sachverhalte auf komplizierte oder gar einfache Zusammenhänge [24] steht hier im Vordergrund. Diese lässt sich meist an folgender Formulierung erkennen: «... das ist ja nichts anderes als ...». Folgende weitere Erkenntnis erweist sich in diesem Kontext ebenfalls als hilfreich: Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung, und die ist sicher falsch! Wenn beispielsweise bei einem Streitgespräch zum Drogenproblem sich zwei einfache Lösungsvorschläge gegenüberstehen, nämlich die Drogen völlig zu verbieten versus die Drogen völlig freizugeben, dann handelt es sich zweifellos um ein komplexes Problem.

      Für jedes komplexe Problem gibt es eine einfache Lösung ... und die ist sicher falsch!

      Ein zentraler Grund für eine unzulässige Vereinfachung ist die in der folgenden Abbildung 1.5 festgehaltene Problematik der Zeitschere. Die zum Treffen guter Entscheide in komplexen Situationen benötigte Zeit nimmt stetig zu, hingegen nimmt die verfügbare Zeit aufgrund des Wettbewerbsdrucks und des starken Wandels immer mehr ab. Die sich öffnende Schere zwingt Führungskräfte zu «Sattelentscheiden», die sich durch mangelhafte Zielbestimmung, Beschränkung auf wenige Ausschnitte der Entscheidungssituation und einseitige Schwerpunktbildung auszeichnen. Dies führt aber zur Vernachlässigung von Nebenwirkungen und zur Übersteuerung. Wenn schließlich nur noch autoritäres Verhalten zu helfen scheint, ist die Schieflage perfekt. Dietrich DÖRNER (1989) hat diesen Mechanismus anschaulich in seinem Buch «Die Logik des Misslingens» beschrieben.

img6.jpg

      Den Versuch, komplexe Systeme optimal vereinfacht abzubilden, hat sich die Methodik des Vernetzten Denkens (GOMEZ, PROBST, 1999) zum Ziel gesetzt. Diese wird in 4. Kapitel zur strategischen Führung im Detail vorgestellt und in ihrer Anwendung illustriert.

      Die Bewältigung von Komplexität erfordert das Zusammenspiel von optimaler Vereinfachung und Weiterentwicklung eigener Optionen!

      Wie ist nun bei der Bewältigung von Komplexität vorzugehen? Wir sprechen hier bewusst von der «Bewältigung» der Komplexität und nicht von der Lösung eines komplexen Problems. Eine solche gibt es nämlich aufgrund der angeführten Argumente nicht, es gibt lediglich eine Annäherung an einen Idealzustand. Wegweisend für den Umgang mit Komplexität ist das «Gesetz der erforderlichen Varietät» von Ross ASHBY (1970, 207), wobei die Varietät die Vielfalt möglicher Zustände des Systems misst. Das Gesetz besagt, dass zur Bewältigung der Varietät einer Problemsituation eine mindestens gleich große Varietät durch die reflektierenden Praktiker aufgebaut werden muss. Abbildung 1.6 illustriert diesen Zusammenhang, wobei die Problemsituation bewusst amöboid als schwer fassbar dargestellt wird, während das Rechteck des Managements dessen begrenztes Instrumentarium abbildet.

img7.jpg

      Um die Varietät ausgeglichen zu gestalten, gibt es zwei Möglichkeiten: Vereinfachung der Entscheidungssituation (Varietätsreduktion) und Stärkung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten (Varietätsgenerierung). Um die volle Wirkung zu entfalten, müssen diese beiden kombiniert werden.

      Der Schlüssel zur Vereinfachung der Entscheidungssituation mit dem Ziel der Varietätsreduktion liegt in der Erkennung von Mustern. Die Forschung zur Selbstorganisation und zur Evolution von komplexen Systemen gibt hierzu wichtige Hinweise. Es geht um die Identifikation von Regelmäßigkeiten im Fluss von scheinbar ungeordneten Ereignissen und Prozessen. Systemgrenzen sind nicht vorgegeben, sie können neu gezogen werden, indem bereichsübergreifend in Wirkungsketten gedacht wird. Emergente, spontan entstehende, sich selbst verstärkende Entwicklungen sind stets das Resultat von Rückkoppelungen, die tiefere Einblicke in die Eigendynamik der Entscheidungssituation ermöglichen. «Power Laws» (TALEB 2008) sind empirische Gesetzmäßigkeiten der Skalierung, die oft gegen die Inituition und reduktionistische Erklärungsversuche verstoßen. Schließlich gibt es auch bei komplexen Entwicklungen Konstellationen, sogenannte «pockets of order» (JOHNSON, 2009), die eine Prognose ermöglichen. Diese Zusammenhänge sind auf der linken Seite der Abb. 1.6 festgehalten und werden im weiteren Verlauf des Buches illustriert. [27]

img8.jpg

      Wegleitend für Varietätsreduktion im Unternehmenskontext ist folgende Aussage von Steve Jobs (ISAACSON, 2011): «Einfachheit ist die höchste Form der Raffinesse ... Es erfordert eine Menge harter Arbeit ... etwas Einfaches zu schaffen, die Herausforderungen zu verstehen, die dem Ganzen zugrunde liegen, und eine elegante Lösung zu entwickeln.» Voraussetzung ist ein grundlegendes Verständnis der Spielregeln der Entscheidungssituation. Im Unternehmen geht es dabei um die Geschäftslogik, die Umweltdynamik und die Unternehmenskultur. Die Geschäftslogik beinhaltet die konstituierenden Prinzipien der Unternehmensführung und die speziellen Ausprägungen der jeweiligen Unternehmenskonstellation. Konkret, wer die Grundlogik unternehmerischer Tätigkeit – beispielsweise niedergelegt im Konzept des Shareholder Value (RAPPAPORT, 1998) – und die branchenspezifischen Anforderungen an das Unternehmen nicht versteht, wird nicht in der Lage sein, diesen Mangel durch Maßnahmen der Varietätsgenerierung wettzumachen. Das Gleiche gilt für die Umweltdynamik und die Unternehmenskultur. Wie Clayton CHRISTENSEN (2003) gezeigt hat, sind Unternehmen stets durch disruptive Angriffe der Wettbewerber in ihrer Lebensfähigkeit bedroht. Disruptionen laufen nach bestimmten Mustern ab, die rechtzeitig als Ausdruck der Umweltdynamik erkannt