Maud und Aud. Gunstein Bakke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunstein Bakke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670414
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      Auch sonst liegt Jon Berre fast immer mit geschlossenen Augen da, denn im Innenfutter aus Fleisch und Haut rumoren unangenehme Schmerzen, die mit Morphin betäubt werden müssen. Aud und Maud glauben, irgendwo im Innern seines leichten Schlafs sei er gleichwohl wach. Sie hauen und streicheln ihn, drücken und lauschen, und meinen, einen neuen Klang in seiner Stimme zu hören, wenn ein Laut aus ihm hervordringt, einen Widerklang aus der Kehle und dem Schattenreich, wie ein Stück Folie, das ihre Mutter über die Verpackungszahnreihe abriss, um die Schulbrote einzupacken oder einen Essensrest für den nächsten Tag aufzubewahren.

      Heben sie die Bettdecke, sehen sie ein einsames linkes Bein und einen Stumpf, wo früher das rechte war. Das Gesicht des Vaters wurde mithilfe frischer Haut vom noch vorhandenen Oberschenkel neu gestaltet, die eine Gesichtshälfte älter als die andere, oder eigentlich sind jetzt beide Seiten am ältesten, jede auf ihre Art. Es ist nicht leicht, die weiße, etwas wässrige Haut anzufassen, aber es ist ebenso schwierig, es nicht zu tun; die Finger sinken ein wenig ein. Er scheint sowieso nichts zu merken. Stattdessen legt Aud ihr Ohr an seins und hört das Meer. Mit einem Ohr ist das Meer ein fernes Sausen; mit zwei ist es in einem drin. Wenn man es teilt.

      Das Meer selbst ist immer eins.

      Der Vater hat ein Bein verloren, aber eine Niere bekommen. Die Pfleger haben erzählt, was Nieren sind, Säckchen, die das Pipi ausfiltern, damit man aufs Klo gehen und es rauslassen kann. Man hat auch davon zwei, obwohl man es mit einer schaffen würde, aber die von Vater waren beide kaputt, darum hat er eine von Billie Arnesen Afrets Nieren bekommen, nachdem das Auto, das sie steuerte, vierundsiebzig Tage und drei Stunden nach dem Unfall von Jon Berre und Familie, zweihundertneunundneunzig Kilometer weiter nördlich auf einem geraden Straßenstück ausscherte und im Fjord landete. Unerklärlich ausscherte. Erhebt sich in die Morgensonne, tropfend über dem Wasser, ein Auto, eine Niere, fliegt in eine gelbe Flüssigkeit, wie Pipi. Es regnet, Sonnenregen. Der Vater ist jetzt ein wenig Frau. Hätten sie nicht eine von Mutters Nieren nehmen können? Vater hätte beide Nieren, ihr Herz und ihr Blut haben können. Alles, was er brauchte, hätten sie von ihr nehmen können. Früher waren sie zu zweit, Ruth und Jon, jetzt konnte davon nicht mehr die Rede sein. Hätte man aus der Situation nicht etwas Besseres machen können?

      Du kriegst eine Niere von mir, falls du eine brauchst, sagt Aud zu Maud, und Maud verspricht dasselbe. Aud kann alles von Maud haben. Nur nicht ihr Gesicht. Aber wenn ich sterbe, kannst du auch das haben, sagt Maud.

      Pisst du jetzt das Pipi von dieser Frau, fragen sie den Vater.

      Aber es ist nicht viel zu holen bei dem Körper, der ausgestreckt und festgezurrt daliegt, in- und umdisponiert, der weder der gleiche alte ist noch ein neuer. Die Pupillen bewegen sich in den wachen Stunden von einer Seite zur anderen wie die Luftblasen einer Wasserwaage, und ganz selten einmal ist der ganze Mann ein einziges Plaudern, dann sagt es Sachen wie:

      Es ist die Organisierung, irgendetwas stimmt nicht, ich höre es am Geräusch.

       Was ist mit der Steuerung los, da will etwas nicht, kann man das hinkriegen?

      Es geht zu schnell, ich komme nicht nach. Ich verstehe nicht, was das ist.

      Ja, Jon Berre wird in einen Arbeitsplatz verwandelt, in eine Baustelle. Doch einen Mann nach guter alter Manier herzustellen, ist Ingenieurskunst, die Zeit und Können voraussetzt. Sie karren Baumasse herbei, verlegen Rohre, nehmen Proben von Festem und Flüssigem, entscheiden, welches Material gebraucht wird. Man kann mit der Materie fast alles erreichen, wenn man präzise und geduldig ist, bewandert und beschlagen mit Boden und Berg. Das Ziel: Die Menschen sollen sich sicher fühlen. Das Ziel: Die Menschen sollen ankommen. Die Chirurgen versuchen sich vorzustellen, was wo gewesen ist, verschieben Gewebe und verhandeln über Fantasien aus Polyester, Aluminium und Knochenzement, montierbar in einer Stumpfhülle aus gewalktem Leder mit Stahlbeschlägen, so wollen sie ihn Teil für Teil zusammenpuzzeln zu etwas, das zwar nicht derselbe Mann ist, aber doch dem gleicht, der sich verschätzte, der meinte, die Geschwindigkeit sei den herrschenden Fahrverhältnissen angepasst, vielleicht war sie das auch, vielleicht dachte er nur im falschen Moment an etwas oder dachte gar nicht oder dämmerte weg oder, oder;

      wer kann schon wissen, was entscheidend war, welchen Grund das Grundlose hatte, in dessen Folge er die ihm so vertraute Kurve mit makelloser Klothoide und Querneigung nicht kriegte. Eine perfekte Kurve in den Händen eines erfahrenen Fahrers, und doch konnte er die Kurve dieses Mal nicht. Er hatte, als es wirklich drauf ankam, sie offenbar vergessen, denn es kommt ja, im Verkehr, jedes einzelne Mal wirklich drauf an. Keine Operation ist wichtiger als die bevorstehende, es sei denn die, die du jetzt, eben, ausführst, während wir reden, während wir uns bewegen. Nichts steht jemals still, man sollte die Bewegung, deren Teil man ist, verstehen. Der Betriebsleiter weiß, er versteht, selbst in seinem tiefsten Dunkel, oder gerade da, und seine Hände, die nun im Bett umherfuchteln, sich in einem unmöglichen Verhandlungsprozess befinden, wollen, genauso wie der ganze Mensch, nichts anderes, als alles zu ändern, mitten in der Linkskurve, durch die er schon so oft sicher gesteuert ist, mit Familie und ohne; sie einmal mehr sicher hindurchzusteuern ist alles, was er will, und dieses Mal das Einzige, das zählt. Dieses eine Mal, das er nicht zurückbekommt, von dem er nicht loskommt.

      DER GRÖSSTE WUNSCH VIELER, jedenfalls auf dem Wohnungsmarkt, ist es, zum Geräusch des Meeres einzuschlafen und nicht zuletzt, dazu aufzuwachen. Der Immobilienwert schießt in die Höhe, wenn Brausen und Plätschern bis an die Türschwelle reichen. Der Körper kann sich vielleicht besser justieren, wenn sich das kleine Wasser im Großen hört. Das Fleisch, das tagsüber Festland sein muss, darf nachts mitwogen.

      In einer Studie über Schlafqualität darf die eine Hälfte der Teilnehmer zu Meeresrauschen, die andere zu Verkehrsbrausen schlafen. Vielleicht ist das Meer gar nicht der offenbare Gewinner. Wie etwa war das zu Zeiten, als die Menschen auf dem Meer arbeiteten und auf dem Meer verlorengingen, als Schrottkähne und zweifelhafte Versicherungen die Wellen beherrschten; sollte das Dröhnen der Brandung jener Zeiten an Glas und in Ritzen denen Gemütsruhe und Erholung bringen, die im Ungewissen warten mussten? Konnte man sich für einige Stunden vom Vergessen des Schlafs einholen lassen, der Abwesenheit des Selbst, in der sich die Seele jede Nacht reinigen muss, oder lag man eher wach wie gepeitschter Schaum – den eine Welle verbreiten und aufwühlen, nicht aber mittragen kann?

      Heute schlafen die Menschen zwischen Fahrbahnen und Straßen, begleitet vom Brand der Untermeermasse. Das Öl, das schwarze Himmelstief, wird in Oberfläche und große Lärmflocken übersetzt, die vorbeiziehen und sich auflösen, ohne dass du begreifst, was durch dich hindurchgefahren ist. Dennoch vergewissern diese Geräusche einen Schlafenden der Menschen und ihrer Vorhaben, des Lebens, das auch dann weitergeht, wenn du dich fallen lässt, ja, das von selbst läuft, ohne die Unruhe, die das Leben auf Individualniveau mit sich führt. Geräusche eines Menschen, einer Maus, vielleicht auch eines Vogels aber hätten dich geweckt und an Gefahr erinnert, an dich selbst; ein Ferntransport hingegen ist das Geräusch der Sicherheit.

      Ein Ferntransport ist Frieden.

      Der Schlaf hat sein neues Element gefunden.

      DURCH DEN ABSTAND DES TODES WERDEN DIE VERSTORBENEN auch von Unbekannten mit einer ebenso neuen wie rasch verwitternden Verwunderung betrachtet, wie Fragen, von denen vorher niemand etwas wusste und die sich im selben Augenblick stellten, wie deren Antwort verschwand. Unsere Gedanken sind bei den Nächsten: weiter kommen sie nicht.

      Menschen, die Ruth Bore kannten und eben auch manche, die sie nicht kannten, besuchen die Kurve, in der sie von ihnen gegangen ist. Wo sie sie berührte. Ob ein Mensch ein einfaches oder im Gegenteil ein komplexes Phänomen sei, hier ist der Punkt, an dem eine solche Frage zerbröselt, jedenfalls fällt es nicht leicht zu begreifen, dass eine so eigene, eine so besondere Energie – es hätte doch nie jemand an Ruth Bore als etwas anderes als Ruth Bore gedacht – so prompt zu Ende sein kann, an einem so beliebigen, aber kategorischen Ort.

      Tendiert man dazu, einen Menschen als ein komplexes Phänomen zu sehen, wird ein solches Ende in der Vereinfachung des Ganzen, verstärkt durch die Steinmassen im Straßeneinschnitt, wo der Unfall geschah, umso überwältigender. Ja, denn hier wurde wirklich etwas Grobes und Fernes freigelegt, dem man nicht näherkommt, so viel man auch sprengen