Aud und Maud erinnern sich an all das, da ist ja das Haus, ganz nah bei ihnen. Dort gibt es bald Abendessen, warm, heute vielleicht Labskaus, hier draußen werden die Finger steif. Wenn sie so still sind wie jetzt, ist das Wasser im Boden deutlich zu hören, ein ständiges Rinnen, Blubbern und Gurgeln. Keine von beiden rührt sich, auch nicht als ein Nachbar parkt und sie im Hineingehen grüßt. Dass es nicht der Vater sein konnte, haben sie schon von weitem am Auto gehört. Das Brummen ihres Autos ertönt kurz darauf, das Dach gleitet über die Heckenkrone, bevor das Auto, nur halb sichtbar, am Ende der Einfahrt hält. Ihr Vater kommt aus dem halben Auto, sein Kopf zeitgleich mit dem Türenknallen, sein Rufen im Echo des Knalls und des Körpers: Was macht ihr da? Nichts, rufen sie zurück. Nichts ist etwas feucht, ein weißes Wort, es vibriert in der klammen Luft. Seiner Stimme folgen Schritte über seufzende Kieselsteine, die Haustür wird zugeschlagen, Luft in den Kanten, dann hören sie wieder die Erde. Das Blubbern der Erde ist ein kühles Gären, es wächst in ihren Hunger hinein. Vielleicht frischt der Wind auf. Sie frieren und brauchen etwas zu essen, könnten aber ewig so sitzen. Der Matsch, die Erde und die kaltgekochten Steine sind auch ein Labskaus, den sie sich von den Fingern schlecken könnten. Die Finger sind Gabeln. Der große Baumstrunk ist dunkel und morsch, auch den könnten sie essen wie Fleisch. Doch bald wird ihre Mutter auftauchen. Von der Küche her wird sie am Tisch vorbeigehen, an dem sie bald sitzen werden, durch den Geruch des Essens, das sie bald essen werden, und weiter durch die Diele mit Kleiderhaken und Hutablage voller Jacken, Mäntel, Handschuhe und Mützen, sie wird in die abgeschnittenen Gummistiefel steigen, die Haustüre öffnen und über die Schieferplatten im schmutzigen Gras gehen, vier lange, vertraute Schritte bis zur Hausecke, von wo aus sie die Mädchen sehen und hineinrufen wird. Sie hätte auch von der Tür aus rufen und sich das Stiefelanziehen sparen können, aber dann hätte sie lauter rufen müssen, ohne sie zu sehen, und das macht sie nicht. Das macht sie nie. Es gluckst. Sie warten.
Mädchen, Essen.
Das ist eine schöne Zeichnung, sagt Krankenschwester Berit Lund, geborene Hartmann. Was habt ihr dort gemacht, auf dem Hügel? Nichts, sagt Aud. Nichts, sagt Berit Lund und wird still. Dann geht sie hinaus zu den anderen.
Sie ist zurück, sie ist wieder da.
Frag nicht, wo sie gewesen ist.
Ob ein Körper einen Körper fangen kann
CAPE TOWN, 3. DEZEMBER 1967. Die Form von Aktivität, die als Leben definiert wird, findet in dem jungen Körper nicht mehr statt (der es selbst nach dem Aufhören von Leben noch verdient, als jung bezeichnet zu werden). Leben ist aber vor allem eine Verbindung und ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Organen, eine Zusammenarbeit und ein Rhythmus, ebenso eine Arbeit wie ein Lied zur Arbeit – nun ja, jedenfalls öffnen sie den jungen Körper, der einmal einem Mädchen gehörte – den jungen Körper der nun niemandem mehr gehört – sie nehmen ihn und öffnen das, was vor dem Autounfall ein Mädchen war und es weiterhin ist, und heben ihr junges, aber nicht speziell mädchenhaftes Herz aus der jetzt beendeten Arbeit und aus dem Lied, das nicht mehr klingt, um es in einen neuen Körper, eine neue Verbindung hineinzulegen, um einen neuen und gleichartigen Rhythmus anzustoßen, damit es Wissen oder Erinnerung wecken kann (was in der Summe vielleicht Lust ist: zu klopfen, zu schlagen, zu gehen).
Zwar wird das zweifellos von einer Mannschaft ausgeführt, doch der Bauherr ist Christiaan Barnard; sein Auge entscheidet, was man sehen muss und was man übersehen kann, seine Vision spurt die Handgriffe vor, die aus zwei Leben eines schaffen, zwei gerissene Ketten verkoppeln. Ein Wort ist ein Gegenstand in seiner Befehlskette, ein Wort ist ein Instrument in einer Hand, und ein Instrument ist eine vorbestimmte Handlung. Wort für Wort übernimmt das Herz für ein Herz. Gewiss stirbt Louis Washkansky bald (zum ersten Mal) und mit ihm Denise Ann Darvalls Herz (zum zweiten Mal), doch die Technologie überlebt. Und nun, da sie sich als lebenstüchtig erwiesen hat, gibt es reichlich Bedarf und Nachschub von Seiten des Verkehrs, von der Verbindung, der Zusammenarbeit, dem Lied; Organ sucht Kreislauf, Kreislauf sucht Organ. Frisch oder frisch aufgetaut werden sie in die Operationssäle getragen, erfahren, doch unerprobt in dem, was nun geschehen soll. Verhandlungssteine in einem Spiel. Ein und derselbe Mensch kann gleichzeitig am Leben sein und am Sterben, wie es ausgeht, werden die Spielsteine entscheiden.
Am Sterben: unterwegs in den Tod.
Am Leben: unterwegs ins Leben.
Beim Unfalltod werden sich die Umstände nie mit dem Ausgang messen können, oder vielleicht eher umgekehrt, am Ende erliegt das Schicksal dem Trivialen. Denise und ihre Mutter wollten die Straße überqueren, um einen Kuchen zu kaufen, um die letzten Details entsteht eine melancholische Mathematik: Hätte der Onkel keine Nussallergie gehabt, hätten sie eine andere Konditorei gewählt, wie wäre es mit Orangenfüllung, wäre die Umleitung wegen Bauarbeiten nicht gewesen, die Umleitungsstrecke länger gewesen, warum nicht mit Baisers garniert, mit Brombeeren? Hätte sie, wenn das Radio einen anderen Song gespielt hätte, ihn zu Ende gehört? Der banale Lebensabbruch hat kein Timing, keine Dramaturgie, nichts ist fertig, vorbereitet oder in Gang gesetzt, und doch klammern sich die letzten Augenblicke an ihren definitiven Zweifel: Hat sie den Kopf gedreht, als sie aus dem Auto stieg? War das Letzte, was sie sah, der Himmel oder ein Reklameschild, oder war es das Gesicht des Fahrers, der sie niedermähte? Selbst wenn man sagen kann, dass der Tod prompt ist, gibt es zwei kurze Wartezeiten, von denen man sich nur schwer lösen kann, die erste zwischen dem Unfall, der mit Sicherheit passieren wird, und seinem Eintreffen, und die zweite zwischen dem eingetretenen Unfall und seinem Ausgang, der bereits feststeht. In dieser kleinen Luftreise, was ist da? Angst, Ärger? Verwunderung? Resignation? Rausch?
Oder, bereits, nichts?
Mit ins Grab nehmen die Verkehrstoten nur ihren Mangel an Geheimnissen. Die Geschwindigkeit erklärt alles, die Kräfte liegen offen zutage. Die Umstände, die kleinen Faktoren und Geschehnisse, werden hervorgeholt und vergrößert, nicht um, wie im Kriminallabor, etwas aufzudecken, sondern als im Zusammenbruch befindliches Ornament, groteske Eigenschaften, die keinen Halt bieten. Es war keine Rahmtorte, es waren Mille-Feuilles. Fürs kommende Wochenende war ein Ausflug mit den Freundinnen nach Bloubergstrand geplant. Sie trug den blauen Plisseerock.
Denise war eine perfekte Universalspenderin: Blutgruppe 0-negativ. Nehmt ihr Herz, sagte der Vater, und gewiss merkt man es den Formulierungen im »Heart of Cape Town«-Museum an, dass schwer zu sagen ist, wer eigentlich der Spender sei: Eine enorm großzügige Tat, heißt es taktvoll, wie es das Herz verlangt. Und doch weist der Washkansky-Körper, anders als das Washkansky-Bewusstsein, die Gabe mit einer Kraft zurück, der man sich letztlich nicht widersetzen kann. Ein Körper will lieber sterben, als mit einer feindlichen Kraft zu leben; ein Körper ist des anderen Feind, wenn dieser andere in ihn hinein will. Wirklich in ihn hinein will, und mehr als das, wenn er in ihn eingehen will. Für ein Bewusstsein sieht die Sache komplizierter aus. Während der Körper durch die Instinkte in einen größeren Körper übergeleitet wird, wie eine Biene etwa oder eine Ameise, möchte das Bewusstsein liebend gern all das im Körper ersetzen, was nötig ist, um selbst intakt zu bleiben. Das Bewusstsein findet, ein wenig Anpassung müsse möglich sein, Selbstzerstörung sei selbstzerstörerisch, und lässt folglich zu, dass der neue Körper mit Imoran und Kortison vollgestopft und mit Gammastrahlen bestrahlt wird. Das Bewusstsein kämpft für seine eigene Sache und versagt es dem Körper, seiner ersten, seiner uralten Reaktion zu folgen;
der Körper, der bereit ist zu töten, um nicht zu sterben, nicht aber Leben anzunehmen, um zu leben.
Eine Methode für die Gegenwart ist entwickelt. Ein alter Körper gibt nach. Im Dezember 1967 siegt der Drang, jede Grenze zu überwinden.
Auch die der Apartheid: Der zehnjährige, farbige Jonathan bekommt die Nieren der weißen Denise.
Ob ein Körper ein Körper sein kann.
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