Maud und Aud. Gunstein Bakke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunstein Bakke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670414
Скачать книгу
die halbe Straße ausmacht. Die andere Hälfte ist alt und grau und liegt einige Zentimeter tiefer im Gelände, darauf fahren die Autos in kleinen Kolonnen vorbei, die sich zuvor hinter den transportablen und provisorischen Ampeln als Schlangen gebildet haben.

      Die Straßenarbeiter sind heimgefahren, der Asphalt ist neu und dunstet. Die fette Masse ist immer noch warm unter den Fußsohlen des Mädchens, das hinaus auf das schwarze Band gegangen ist und nun leichte Spuren hinterlässt. Bei jedem Schritt zirpt es, wenn der klebrige Stoff nachgibt und festhält, nachgibt und festhält. Es erinnert sie ans Mandelkuchenessen. Sie hat Lust, die Straße zu essen.

      Als sie sich hinlegt und einen Engel machen will, wird die Kontaktfläche zu groß. Die Oberfläche nimmt den Abdruck ihres Körpers nicht an und die Armbewegungen – die Flügelschläge – haben zu wenig Bodenhaftung. Erst als sie wieder aufsteht, entsteht eine kleine Kuhle unter dem Hintern. Und zwischen Fäden und Streifen des dünnen Stoffs, die vom Rücken des Kleids abgerissen sind, lässt sich, wenn man nachsieht, erahnen, dass der neuen Straße ihr erster Unfall geschehen ist, und dass der Asphalt auch das Blumenmuster angenommen hat.

      RUTH MERETE BORE IST TOT, steht da.

      Sollte es wirklich Anzeige heißen, Todesanzeige. Ist dieses Wort nicht etwas abgenutzt, denkt einer.

      Ruth Bore, Ruth Bore. Die schüchterne Brünette aus der Kantinenschlange, denkt ein anderer und sieht dabei einen dünnen, grauen Wollpulli, Brille; einen leicht über den Wasserhahn gebeugten Rücken, vorsichtig mit dem Strahl. Ganz im Gegenteil, Korrektur: Hart schlägt das Wasser ins Glas. Winzig kleine Tropfen hängen wie Tau in den Wollfäden.

      Das ist der Unfall, von dem ich gehört habe, denkt eine mit einem Anflug von Heiterkeit, den sie nicht unterdrücken kann, der daher rührt, etwas zu wissen, das erst jetzt an andere verbreitet wird.

      Jemand erinnert eine Nacht mit zwei Körpern, die nebeneinander lagen, zwei nackten Körpern, die die Wärme des anderen spürten, ohne sich wirklich nahezukommen, und jetzt, wo er das Kreuz über Ruths Namen sieht, spürt er wieder das ungebrochene Siegel und die Gewissheit jener Nacht:

      Das ist nicht das Leben, das ich leben will.

      Ach, das ist doch die, die jeden Samstag eine Tüte Twist kauft, welchen Tag haben wir heute?

      Seinen Namen hat sie nicht angenommen. Immer hat sie etwas zurückbehalten.

      Sie, die gemessen hat, um wie viel der Meeresboden unter den Plattformen absank.

      Fünfter Stock, Nordflügel, dritte Tür links. Blaue Landkarte. Grüner Spannteppich. Zentimeter pro Jahr.

      Ausgerechnet sie, die nach Dänemark unterwegs waren, ein schrecklicher Gedanke, als wäre das das Schlimmste, die geplatzte Ferienreise. Aber die Mädchen hatten sich so gefreut. Die ersten Familienautoferien, sagte Jon.

      Mit ihr habe ich gespielt, Ruth, so hieß sie doch, zwei oder drei Sommer lang, die Sommersprossen und die Zöpfe, das einbrechende morsche Holz, die Stille während des Falls, und dann, da musste ich gerade wieder erwacht sein, die Kälte am Rücken, fauliger Geruch und Feuchtigkeit, ihre verängstigte, in ihr eigenes Echo verfangene Stimme, dort, weit oben … Ruth … oder hieß sie Kristine?

      Das ist doch die bei Phillips Petroleum, die zurückhaltende Geologin, aber was für ein Temperament sie hatte, damals, wie war das nochmal, diese Sitzung, jedenfalls stand sie auf, knallrot im Gesicht, es ging um einen Bericht, den man bei der Entscheidung nicht berücksichtigt hatte, sie fühlte sich übergangen, irgendetwas war da.

      Ich holte deinen Körper aus dem Wrack, ich kannte dich nicht, aber ich legte dich auf den Boden und sammelte dich ein. Ich half, deine Töchter freizubekommen, und ich hoffe, sie erleben eines Tages etwas, das so gut ist, wie das hier schlecht. So richtig, wie das hier falsch.

      An ihr blieb kein Spitzname hängen, sie konnte nur Ruth sein. War für weichere Namen quasi zu steif.

      Der Mann und die Töchter liegen im Spital, hängen an dünnen Lebensfäden, an dünnen Todesfäden. Manche reißen und manche werden gezwirbelt. Alle Fäden sind schwarz.

      Ist das nicht der Mann, den ich letztes Jahr in der Zeitung gesehen habe, der gerade fertiggestellte Straßenabschnitt. Jon, doch, doch.

      Sie war ganz sicher noch nicht durch. Niemand kennt die Stunde, das stimmt. Aber ihre Zeit war noch nicht gekommen.

      So jung, 1981 minus 1949, aber ich muss aufhören, solche Sachen zu lesen, aufhören, diese Seiten aufzuschlagen und aufhören, wegen Menschen, die ich nie gekannt habe, feuchte Augen zu bekommen. Das ist unwürdig.

      Er hat es offenbar geschafft, vorläufig jedenfalls, wer sagte nochmal, das sei unwahrscheinlich? Fuhr direkt von der Straße ab, direkt in den Fels. Und die Töchter, die Zwillinge, was für ein Leben erwartet die jetzt?

      Bore. Kannte ich nicht mal einen, der so hieß? Der eine Importfirma in Lillestrøm hatte? Dem ein Drittel des Trabers Slogum Tor gehörte? Etwas nervöser Typ. Große Hände. Seltsam, wie gut man sich an manche erinnert. Habe ihn einmal getroffen. Hätte ihn immer wiedererkannt, überall.

      Entrissen, so etwas können die gut schreiben, doch Abschied braucht Zeit. Man muss sich an die Gedanken gewöhnen, die keine Antwort bekommen, warten, bis der Mangel sie zersetzt.

      Die vom Volleyballtraining, so nah am Netz und nie darin. Der Blick von der anderen Seite, der mich nie zu sehen schien. Als wäre das Netz wirklich eine Grenze. Gut im Blocken.

      Ich schäle mich.

      Ich schäle mich frei von den Wagen

      Werfe Schale um Schale von mir,

      Wagen um Wagen.

      Merke, indem ich mich schäle,

      werfe ich von mir auch Fleisch und Blut.

      Werfe viel Menschliches von mir.

      Der Mensch und seine Wagen folgen einander.

      Oft stirbt er in seiner Rüstung.

      Oft erinnert man ihn

      nur, wie er in seiner Rüstung war

      mit dem Wagen rundum.

      HARRY MARTINSON | Der Wagen

      DIE STRASSE WÄCHST, DIE STRASSE WEITET SICH und geht dabei in die Kurve, Jon Berre atmet: Der Atem ist in ihm, der Atem ist ein Körper im Körper, der Atem atmet. Jon Berre öffnet die Augen und starrt auf den Felsen, durch Glas, aber dort, im Scheibenglas, hängen Ruths Augen, in der Brille. Im Glas im Glas. Sie schaut auf denselben Felsen wie er, er sucht ihren Blick, sie kann den seinen nicht suchen. Der Stein ist hermetisch, grauweiß, knotig. Die Frontscheibe und die Brille wollen der Straße dahin folgen, wo sie sich weitet, da wird die Sicht versperrt und die Straße kippt. Glas splittert. Das Blut zirkuliert außerhalb des Körpers. Jemand schreit, grübelnd, quasi so, als wollte er sich selbst an das Schreien erinnern. Nein, wie ein Kind schreit, wenn es nicht mehr weiß, was es sonst tun kann, wenn der Schmerz abgeklungen ist. Das Blut schlängelt achtlos dahin und ist aus ihm hinausgewachsen, deutlich sieht er die Arterien, unter denen er wie eine Ausbeulung hängt. Eine Hand streckt sich aus seinem Bauch und hält etwas Davongleitendes; es schlägt mit einer Schwanzflosse, als es verschwindet. Er kann vermutlich sehen und hören, wagt aber nicht mehr, sicher zu sein und zwingt die Augen, die Augen zu öffnen, die Ohren, die Ohren zu öffnen: Das Zimmer, in dem er liegt, löst sich auf und ein anderes erscheint, auch hier liegt er, aber der eintönige Schrei kommt aus einem anderen Raum. Er öffnet den Mund, schreit und hört nichts. Vielleicht hat er gar nichts geöffnet und hat das gehört. Dass er nicht an denselben Stellen anfängt und aufhört wie früher, versteht sich, ein äußerer Kreislauf hat sich an seinen gekoppelt, mit all diesem Blut, Plasmadepot in Plastikdämmen, Ruths Blick sitzt in jeder Glasscherbe und fixiert weiterhin den Stein. Die Scherben zirkulieren mit dem Blut, leiten ihren Blick durch ihn. Das Blut fühlt sich hart an, als wäre es dabei, sich in einem gesprengten Adernetz festzufahren. Immer wieder will er das Steuer an sich und die Schläuche, die ihm den scharfen Saft einführen, wegreißen, bekommt sie aber nicht zu fassen. Sie geben ihm eine weitere