Maud und Aud. Gunstein Bakke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunstein Bakke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670414
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die Sprache verloren hat, muss ihr geholfen werden, sie wiederzufinden. Die Krankenschwestern wollen, dass sie ihnen nachspricht, die Namen der Tiere sagt, die sie auf einer Tafel zeigen, auch die Lippen in ihren Gesichtern bewegen sich wie ein Tier, ein Wurm, wenn sie die Worte formen, die sie sagen soll. Schwan und Spatz. Hase und Fuchs, Bieber und Bär. Das ist die Welt, antwortest du der Welt? Aud sieht, wie sich der Lippenwurm bewegt, er hat weder Kopf noch Schwanz, nur einen Körper, einen ringförmigen Körper, die Laute, die aus dem Ring kommen, ziehen durch den Raum; auch sie prallen an der Stille ab, Dösigkeit rammt sie, sie beginnen, sich zu wiederholen, ein ums andere Mal, bis sie nicht mehr zusammenhalten können, einander in Bahnen immer schneller umschwirren. So lösen sie sich von den Wörtern und die Wörter lösen sich von den Dingen, den Zeichnungen, und wenn das geschieht, öffnet sich ein Wald.

      Im Wald ist es kühl und blau. Es ist ein uralter Wald, begreift Aud, ein Wald, der immer da war und sich ihr jetzt geöffnet hat. Wie ein Schrank aufgehen, eine Tür aufgleiten kann. Der Wald heißt Wales, und zwar so, wie das Wort in der Zeitung und auf dem Fernsehbildschirm aussieht: W a l e s. Wales ist eigentlich farblos und doch blau und ein bisschen orange. Das Blau kommt von den Bäumen, nicht vom Himmel, dort oben ist kein Himmel. Sie merkt, dass ihre Mutter in dem Wald ist, irgendwo hinter ihr, während sie nur dasteht und die andere Welt ansieht, die Lautwelt, die abgewiesene Welt, aber sie kann sich nicht umdrehen und die Mutter sehen. Sie ist da, wie ein kühler Luftzug im Nacken, in der Nähe der Stämme rundum. In einem kleinen Schmerz im Handgelenk.

      Aud weiß: Jetzt ist sie im Innern der Stille.

      Und so alt wie hier ist die Mutter nie gewesen.

      Während Aud zwischen den Stämmen in der Stille steht, liegt sie auch im Bett neben einem Rollwagen mit Schachteln und Medikamenten. Maud nestelt an dem kleinen Sortiment herum, das sich hier zusammendrängt, einer Anhäufung von Pillen und braunglasigen Flaschen mit maschinengeschriebenen Etiketten; im matten Widerschein der gebürsteten Stahlplatte wirkt ihre Haut wie gelber Belag, und dieser Belag, der nur ein Abglanz ist, ist auch ein Teich, den Aud vom alten Wald aus sieht. Ein Teich aus gelbem Schmieröl, auf dem Garagenboden. Bis in den Wald riecht es nach diesem Öl, nach feuchtem Zement und eingeschlossener Motorhaube. Maud kann diesen Geruch nicht riechen. Aud kann ihr nicht davon erzählen, nicht von Wales und der Mutter. Maud steht mit ihrem stillen Gesicht mitten in der sprechenden Welt, und Aud kann nicht sagen: Komm.

      Aud hebt eine Hand und kratzt in der Luft.

      Am Abend, unterwegs in den Schlaf, fünf Rillen Blut in den Augenlidern. Männer und Frauen kommen zu ihr, setzen sich und sprechen, gehen umher und sprechen, testen verschiedene Bewegungen, mit denen sie die Worte in Schwung versetzen, um eine Frequenz zu finden. Aud hört jetzt, dass ihre Stimmen große Decken sind, die die Wörter unter sich begraben. Die Stimmen sind eine andere Haut, die sofort rubbelig und klumpig wird. Andere Besucher probieren es mit Stille, entschließen sich aktiv für Stille, als wollten sie mit Aud mit-schweigen oder als versuchten sie, etwas zu hören, das zu hören sie nicht gewohnt sind, bevor sie, als wäre es abgesprochen, ihrer Wege ziehen.

      Darin sind sie sich einig: Etwas stimmt nicht mit Auds Tempo. Wie kann man wiederfinden, was jetzt verlorengeht, weil es gar nicht entsteht, weil ihm sein natürlicher Gang in die Welt abhandenkommt? Eine sich öffnende Kluft ist ein unheimlicher Anblick. Techniken gegen das Entgleiten sind vonnöten. Großmutter Karry hat einige der alten Spielsachen dabei, Puppen, Stoffesel, Lebenslinien zum alten Dasein, Aud holt sie zu sich ins Bett. Es stört die Spielsachen nicht, dass sie schweigt.

      Nichts weiß mehr über Stille als sie.

      KRANKENSCHWESTER TURID SAHL steht am Fenster und spürt den Drang zu rauchen, da knallt es im Fensterglas, und ein Vogel fällt auf die Erde.

      Diese Schläge kommen wie etwas, das sich vom Licht da draußen gelöst hat, plötzlich ist es Fleisch, plötzlich Glas geworden. Einen Moment lang weiß man nicht, was es ist, wo es ist – geschieht das, was passiert, in einem selbst oder außerhalb. Ist es das Herz?, fragt verschreckt das Herz. Draußen und drinnen sind wesentliche Größen in einem Krankenhaus und sobald man versteht, was geschehen ist, finden die Körper zu ihren alten Konturen zurück, ihren eigenen, privaten Umläufen. Turid und die anderen Krankenschwestern müssen ihre Fürsorge begrenzen, damit sie wirken kann, sie müssen sie mit derselben Präzision bemessen, die sie brauchen, wenn sie mit einer Spritzenspitze das Blut suchen, so, wie auch die Kranken von ihrer Krankheit abgegrenzt sein müssen und sich wegen der Gefahr, dass die Krankheit gleichziehen und an Kraft zulegen könnte, nicht erlauben dürfen, sich über sie hinauszustrecken. Man muss ausschalten und selektieren, fokussieren. Leben müssen manchmal auf ihr Minimum schrumpfen, um wieder zu Kräften zu kommen, aber auch, um abtreten zu können.

      Auch Turid Sahl bekommt keine Antwort, wenn sie mit Aud spricht, und sie merkt, wie ihre Stimme mit der Zeit eine eigene Spur findet, in die sie verfällt, sobald sie mit denen spricht, die zum Antworten zu alt oder zu krank sind, die aber Menschenstimmen hören sollen; diese Stimme erwartet keine Antwort, erbittet sie auch nicht, und einige Stunden später, bevor der Schlaf sie mit seinem milden Opiat einholt, denkt Turid Sahl, dass sie eigentlich nicht so mit dem Mädchen sprechen will.

      Als sie die Augen schließt, hört sie dasselbe Schlagen.

      Dieses Mal lässt sie das Herz herein.

      WIR VERBRENNEN DAS ÖL. Wir verbrennen das Öl.

      Ist es ein Traum, so ist es unmöglich, am Ende aus ihm aufzuwachen.

      Nicht der Traum, das Erwachen brennt.

      Es gibt Morgen ohne Zweifel: Ein anderer hat da geschlafen. Nicht ich war das. Daher dieser Frost. Ohne die Nacht im Rücken, eine sichere Nacht, ist der Tag so verletzlich. Worin kann man sich ausruhen. Was kann man sein, das man nicht selbst erschaffen muss. Dieser Tag wird zerbrechen; wie ein dürres Laubblatt zwischen den Fingern zerbröseln und zu Streu werden.

      Das Öl brennt und wächst nicht nach. Nie mehr Nacht.

      Nicht noch einmal.

      EIN ZUFÄLLIGER ZEUGE DES GANZEN, hätte gesagt, das Auto sei in normaler Geschwindigkeit in den Tunnel gefahren. Anders gesagt: etwa die Geschwindigkeit, in der die meisten Autos in den Tunnel fahren. Und sollte die Geschwindigkeit einen Hauch zu hoch sein, sinkt sie meist, sobald das Auto sich im Tunnel befindet, da die biologischen Sensoren sich an eine neue Optik, ein dunkleres, quasi gefaltetes Licht gewöhnen müssen und an etwas anderes, schwieriger zu Benennendes, das einem anderen Bereich angehört; etwas, das sich zusammenzieht.

      Feuchte.

      Steinumschließung.

      Wie man es nun nennen mag, es durchdringt binnen Zehntelsekunden das Metall und die Polsterung. Fleisch altert, oxidiert. Die Stimmung wechselt die Farbe. Und dann beginnt die Beschleunigung. Das Auto bewegt sich in diesem Augenblick mit 125 Stundenkilometern in stetigem Tempo, doch das Tempo ist nicht stetig. Der Brennstoffverbrauch ist bei einer Beschleunigung auf die Höchstgeschwindigkeit maximal hoch. Da sich die Straße neigt, beschleunigt das Auto auch noch, als das Gaspedal, das mittels einer Klappe im Vergaser die Benzinzufuhr zu den Zylindern erhöht, sich nicht mehr weiter gegen die Unterlage drücken lässt.

      Das Auto ist jetzt eine Kugel auf ihrem Weg durch den Lauf. Rund um die Karosserie knallt und scheppert es. Über einer gewissen Grenze gleicht Geschwindigkeit Gewalt. Diese Grenze wird überschritten. Die Luft selbst ist jetzt ein Massiv, durch das sich das Auto hindurchpresst. Der Meeresgrund ist irgendwo weit oben. Die Nadel zittert an einem Markierungsstrich. Unruhige Bewegungen in einem geschlossenen Auge. Ein Traum auf der Jagd nach einem Träumer.

      Hier kann ein Auto entgegenkommen, ein Auto, das mit alldem nichts zu tun hat, nichts außer diesem Tunnel. Es ist lange einer Landschaft gefolgt, in der das Terrain planiert und aufgefüllt und mit Blick auf gute Lösungen und Übergänge angepasst wurde, mit guter Sicht und Arealnutzung, mit Rücksicht darauf, wie ein Fahrer Proportionen und Harmonie erlebt. Der Horizont ist wie das Längenprofil eine straßentechnische Frage, eine gewählte Lösung; so sprechen die Verkehrsplaner durch die Straße zu den Fahrern.

      Auch dieser Tunnel hat einen Vorbau, der die Lichtintensität reduziert oder erhöht. Nichts soll zu jäh auftauchen.