Maud und Aud. Gunstein Bakke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunstein Bakke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670414
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sein.

      AUD UND MAUD SITZEN AUF DER RÜCKBANK, als der Betriebschef die Kontrolle verliert, als die Familie aus dem Alltag und von der Fahrbahn gerissen wird und eine unter ihnen, Ruth Bore, von einer Sekunde auf die nächste fertig ist mit allem, was sie ausgemacht hat. Der Fels tat nichts dafür oder zuwider, der Fels stand, wo er stand, und stoppte das schnelle Fleisch, das umherirrende Fleisch, stoppte die Reise des kühnen Fleischs, und von allem, was Ruth gewesen war, blieb fast nur das Gesicht intakt, eine Scheibe, zitternd auf einer beweglichen Schicht aus Fleischfladen und Splittern, mit halboffenem Mund, als hätte sie sich etwas allzu Unbekanntem und Plötzlichem vorstellen wollen. Zu schwarz, um zu sein. Zu hart.

      Etwa fünf Minuten davor, aber schon tief in einer anderen Zeit, sehen die Mädchen ihre lebende Mutter zum letzten Mal, dieses Gesicht, das ihre lebende Mutter ist. Fünf Minuten in einer anderen Zeit dreht sich die Mutter zu ihnen um, das Gesicht hat kaum Platz für sich selbst, der Mund ist verzogen, als sie ihn öffnet und etwas sagt, die Brille ein wenig auf der Nase verrutscht, sie muss mit einer Hand danach greifen und sie richten. Es sind diese Bewegungen, dieser Ausdruck, die es in die neue Zeit schaffen, nachdem sich das Wenige, das sie sagen wollte, aufgelöst hat oder einfach registriert wurde, so, wie man einen Druck von einer atm registriert, die Luft, die man atmet, das ganz Gewöhnliche. Die Bedingungen für das Leben, wie wir es kennen.

      Der Vater darf sich nur mit kleinstmöglichem Spielraum und auf einem Bein weiter durchs Leben schleppen. Und doch ist da, in alldem, ein Wunder geschehen, hören sie;

      das Wunder ist, dass es ihnen gelang, aus der zerdrückten Metallplatte, dem geschmolzenen Plastik, dem Geruch nach verbranntem Fleisch und Gummi zwei ziemlich zusammenhängende, zu hundert Prozent lebende Mädchen auszusortieren. Eine der Lebenden ist Aud, hundert Prozent ist viel, versteht sie. Sie ist, trotz der Brüche, immer noch ein Mädchen; die Arme wachsen immer noch aus den Schultern, die Beine beginnen immer noch an den Hüften, obwohl sie einige Schrauben und Schienen einsetzten, die ihr helfen sollen, zu der zusammenzuwachsen, die sie war, und dann zu der, die sie werden sollte. Täglich wird sie justiert und gepflegt und protokolliert, ihr Blut wird getestet. Ab und zu testen sie auch Mauds Blut, um zu sehen, ob es noch gleich ist.

      Vom Kopf hat sie Aussicht auf all das. Nur den tiefen Riss in der rechten Gesichtshälfte, von der Schläfe bis zum Mundwinkel, kann sie nicht sehen, aber das Pochen in der Backe kann sie spüren, wie das Blut auf Hochtouren arbeitet, kann sie spüren, und wie sich die Finger danach sehnen, am Schorf zu pulen, der sich unter dem Verband bildet, das kann sie auch spüren. In den Fingern sitzen schon sieben Sommer, Schorfsommer, Hülsensommer, Grassommer in Grün und Rot. Sieben Pul- und Ablösesommer.

      Maud hat keinen Riss im Gesicht. Maud hat nur ein wenig Kopfweh und sonst keine Verletzungen. Maud sieht immer noch aus wie sie selbst, außerdem sieht sie aus wie Aud, so, wie Aud früher aussah, es jetzt aber nicht mehr tut.

      Ihr Gesicht ist jetzt bei Maud. Ihrer beider Gesicht.

      Wenn Aud mit den Fingern über den Verband fährt, kratzt sich Maud an der gleichen Wange, das hilft. Wenn sich Maud mit dem Rücken an die Heizung vor dem Fenster stellt, spürt auch Aud, wie die Haut unter dem dünnen Stoff zu schmerzen beginnt und rutscht im Bett zur Seite.

      Aber wenn Maud vor dem Spiegel beim Waschbecken steht, schließt Aud die Augen.

      Die Erwachsenen wissen auch nicht recht, was sie sehen, und brauchen den Blick auf neue Art. Hjalmar und Karry machen das, die Lehrer, die Aud besuchen, machen es, nicht nur, weil sie anders aussieht, sondern weil die Mädchen etwas sind, was sie noch nie gewesen sind, nicht so. Zuvor haben sie gelebt, jetzt haben sie überlebt. Jetzt sind sie, auf einmal, am Leben.

      Im Fernseher auf dem Fernsehtisch winken zwei Frischverheiratete Aud und Maud zu. Es sind Tscharls und Dai-Änna, Prinz und Prinzessin von Oeïls, oder heißt es Weïls? Sie lächeln und winken, lächeln und winken, aus einem Auto ohne Dach. Und es ist kaum zu fassen, wie langsam sich dieses Auto bewegt. Man kann sich fragen, wozu man ein Auto braucht, wenn es kein Dach hat und so langsam fahren muss. Viele Leute umringen es, wollen schauen, drängen heran. Maud und Aud rücken im Bett näher zusammen. Das Auto schützt wohl ein wenig vor all diesen Leuten. Es schleicht vorwärts, fast als wäre es kein richtiges Auto. Beschleunigte es nur ein bisschen, würden die Leute vielleicht vornüberkippen und darüberkugeln.

      Doch das Auto gleitet durch die Menge, die Frischvermählten lächeln im Fernsehen und auf tausenden Filmrollen, sie fahren in die Linsen, ins Zuhause, in die Pupillen. Fahren in die Körper.

      Es ist ein Wunder, ein wahres Wunder. Dieses so schüchterne Mädchen, das in einem Kindergarten gearbeitet hat. Da kommt sie jetzt. Sieh, wie sie leuchtet. So keusch, so eingeweiht und doch so unerfahren. Mit dem Göttinnennamen, der den großen Sprung erleichtern wird. Der Nachname, bereit sich zu öffnen und zu lösen, eine aus-gediente Hülle. Spencer. Jetzt kann er loslassen.

      Frisch und ausgewachsen sitzt die Prinzessin dort, voller Vertrauen ins Unbekannte; sorglos gegenüber allem, was ihr von nun an entgegenkommt, mit nie gekannter Wucht.

      DIE AUTOSCOOTER krachen ineinander, die Halswirbel winden sich wie Peitschenschmitze gegen die Schädel. Die Fahrer sind Kinder, sie steuern ihre Karren, ohne halten zu müssen, ohne tanken, ohne denken zu müssen, sie folgen dem Instinkt, fahren aufeinander auf und ineinander hinein, eifrige kleine Körper, hell jauchzend. Sie weinen, wenn sie doch eine Pause machen und anderen den Platz überlassen müssen, sie lachen, wenn sie sich wieder in die schlittenhaften Autos setzen, die in der Arena unter großen, elektrischen Tentakeln umhertrudeln. Die Eltern stehen ringsum, ohne Gesicht, richtiger gesagt: ohne Gesichtszüge. Wie bei einem Zifferblatt, auf dem man anstelle von Zahlen neue ovale Scheiben findet.

      Die fröhlichen Schreie füllen die Nacht wie Schaum.

      AUD UND MAUD STREICHEN MIT DEN FINGERKUPPEN über die dünnen blauen Striche in den Armen. Im Spital ist nichts gesund und nichts tot. So ist Kranksein. Der Spitalgeruch unterscheidet nicht zwischen Leben und Tod, alles ist gleich, krank. Medizin ist dasselbe wie Gift. Medizin ist das Metall in der Luft, das Gelbe in den Augen und die Schwere in den Haarspitzen über der Haut. Das ganze Spital ist betäubt, ein Zustand von Schläfrigkeit, Erwachen bedeutet reinen Schmerz.

      Die Geräusche sind hier anders als an allen Orten, an denen sie bisher waren. Rundum hören sie Magnetklicken und Luftdruckhauchen, wenn Schranktüren auf- und zugehen, mit einem dumpfen Wehen entfalten sich Leintücher in der Luft, um dann über Matratzen gespannt zu werden; Körper um Körper bleichen diese Leintücher aus, nutzen sie ab, bis man durch sie hindurchsehen kann wie durch Gaze. Ein anderes Knacksen hören sie in den Kehlen alter Leute, in ihren Rollstuhlspeichen auf dem Korridor. Angstvolle Vokale klettern in die Nächte, als kämen sie aus einer ach so tiefen Schlucht. Tagsüber gibt es das Schlurfen und das Knirschen der Krücken, das Ploppen, wenn Plastiktüten geöffnet werden oder die Metallfolie der Tablettenverpackungen platzt. Aber vor allem hören Aud und Maud die Stille, gegen die die Laute überall anstoßen. Im Leintuchausschütteln und Klicken und Knacksen, in den manchmal aufseufzenden Wänden und in widerspenstigen Handschuhen, wenn Hände sie sich überziehen wollen, im Schuhsohlenscheuern auf Epoxidharzböden und dem Arterienklemmenklirren an Rollwägen; in alldem zeigt sich die Stille. Denn die Geräusche finden keinen Einlass in die massive Stille. Sie werden zurückgedrängt, müssen für sich bleiben, werden ausgeschlossen. Die Stille ist etwas, das den Atem anhält und doch nie atmen muss. Die Stille ist auf eine neue Art gefährlich, gefährlich wie der leere Raum unter dem Bett, nicht wie das schwache Kratzen in ihm. Jetzt werden sie sicher nicht mehr in den alten Betten schlafen, wenn Aud repariert ist und sie bei Hjalmar und Karry wohnen werden. Aber einen leeren Raum wird man nur schwer los.

      Die Mädchen erwachen und spüren ihren eigenen Atem nicht. Sie glauben, sich im Innern der Stille zu befinden, aber nur, bis neue Laute auftauchen. Sie schließen die Augen, um zu sehen, ob es im Dunkeln stiller ist und hören den Puls wie einen Zug in der Ferne. Sie schauen einander ins Gesicht. Dort ist es bei Maud stiller als bei Aud.

      Es ist besser, im Innern der Stille zu sein als außerhalb.

      Aud beschließt, so still zu sein, wie sie nur kann.

      Auf alles, was anklopft, zu horchen.

      Dass