Maud und Aud. Gunstein Bakke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunstein Bakke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783038670414
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starren in etwas Leeres, das sich in einen anderen Leerraum einfügt, den es quasi hervorruft, von dem aus sie starren;

      in dieser zweiseitigen Abwesenheit stehen die Körper und zittern auf dem feuchten Asphalt über Flammen, die keine Wärme, ja nicht einmal Licht spenden, und die doch jede Erinnerung in sich zu bündeln scheinen, die die Einzelnen mitgebracht haben, und sie zu etwas verdichten, das sie alle teilen, etwas, das sich durch die Tagesreste hinunter zur Fahrbahn frisst.

      Viele von ihnen erscheinen auch zu Ruths Beerdigung, der offizielleren Leerstelle, die sie hinterlässt, sie und Jons rechtes Bein, das zu spät den Weg zur Bremse fand und ihr darum hier Gesellschaft leistet. Das mag nicht ganz nach Vorschrift sein, solange der Hauptorganismus noch am Leben ist, aber Halldis Tu vom Bestattungsbüro kannte Hjalmar Berre aus alten Zeiten und sagte, das würden sie schon regeln. Es werde ja schließlich keiner den Sarg aufmachen und nachsehen. Wir müssen über diese Grenzen wachen, so gut es geht, das schon, etwas weiter denken als bis zum heutigen Tag. Aber Mann und Frau und ein solcher Knall, wer kann da richtig von falsch trennen, Stoff von Stoff, wenn er einmal selbst unter diesen Stein soll. Wir sind ja alle eins. Daran werden wir erinnert.

      Eine Reise in die eigene Abwesenheit macht vielen Angst, nicht unbedingt, weil sie so Großartiges über sich selbst dächten, gar nicht, die Menschen sind in diesem Teil des Landes oft zurückhaltend, in mancher Hinsicht selbstaufopfernd, darum akzeptierten sie auch, dass Ruth Bore ausgelöscht wurde, es hätte ja auch sie selbst treffen können, genauso gut sie treffen können, denken sie und werden dadurch, durch Ruth, daran erinnert, dass leben bedeutet, verschont zu sein. Ein Geschenk ist nicht, was man bekommt, sondern was man hat und einem nicht genommen wird; leben bedeutet eine kurzzeitige Dispensierung von der Abwesenheit. Das Öl verändert, wie darüber gedacht wird, verändert das Leben und mit der eigenen Anwesenheit auch die eigene Abwesenheit, aber im Jahr 1981 sitzen diese Gedanken noch tief, aus einer Zeit, da das Leben ein exponiertes Gut ist, das niemand trennen kann vom Leiden.

      Und doch handelt das Erschreckende immer von den anderen, all jenen, die auch verschwinden. In manchen Momenten kann das an absolute Einheit erinnern, wie es bei Halldis war, in anderen an absolute Einsamkeit, auch wenn von Einsamkeit oder so etwas keine Rede mehr sein kann, wirklich nicht. In dieser Gegend glauben die Leute an Gott, machen sich aber keine Illusionen. Gott ist weiß wie Knochen, wie Schaum, wenn das Meer am Stein bricht. Das Leben ist weich, schwer und dunkel. Gott ist hart, leicht und hell.

      Anwesenheit und Abwesenheit sind vor Gott gleich. So erzählt es die Kirche.

      Doch die Leute denken an die Toten und halten den Gedanken warm, den Gedanken an jene, die sie die Ihren nannten, und in diesen Gedanken liegen die wahren Gräber, das haben die Menschen immer gewusst, Wikinger wie Griechen, Arme wie Reiche; ein natürlicher Tod, ein guter Tod, findet in der Erinnerung statt. An einem guten Tod sind viele beteiligt. Einen armseligen Tod stirbt der, an den niemand denkt.

      Entlang der Straßen entstanden, im Laufe der Ära des motorisierten Verkehrs, eine Vielzahl solcher Trauerund Erinnerungsstätten. Die meisten bestehen ein paar Wochen oder Monate lang, bevor sie quasi von selbst verwittern wie Schneeflecken im Frühling. Andere halten sich vielleicht ein ganzes Jahr oder noch länger, schrumpfen aber kontinuierlich, ein immer stärker ausgesetztes Flackern, das schließlich erlischt, aber weiterglimmt, um an dem Datum wieder aufzuflammen, an dem es als Erinnerung der Erinnerung angezündet wird, zwei, drei, fünf Jahre später. Die Unfallorte werden nicht durch Aus- und Anbauten gefestigt, wie es hätte geschehen können, wenn einige wenige über die ursprüngliche Funktion, also das Markieren des einzelnen Unfalls, hinausgewachsen und zu rituellen Stätten geworden wären, wo die Verkehrstoten gleichsam über den Ort oder die Strecke wachten, an der sie einmal ums Leben kamen. Hätte sich die Organisationskultur in die Richtung entwickelt, hätte das Straßenbauamt beschlossen, Aktivitäten am Rande der Straßen und des Weltlichen zu unterstützen, kann man sich vorstellen, dass die Fahrer angehalten wären, um Opfergaben auf diesen Altären niederzulegen. Stille Zeichen des Respekts mit dem Wunsch nach einer guten Reise. Hier würde man alles finden, von selbstgestrickten Handschuhen zu Flaschen mit Tinktur, Blut und Schnaps, Eibenzweigen, Weihrauch und Balsam, Orientierungslauf-Medaillen, Gesangsbücher und eine Kühlerfigur in Form der Nike von Samothrake, dazu die weiterhin niedergelegten Blumen, Briefe und Kerzen. Lokale Spezialitäten würden sich daruntermischen. War man etwa auf der sogenannten Blutstraße in Nordland, der schmalen E6 nach Majavatn, sind Bodø/Glimt-Fußballwimpel vorstellbar, Rentiergeweihe, Peter-Dass-Motive; schwedische Münzen, samische Hornlöffel und Milchschalen, CDs von Halvdan Sivertsen und Thorgeir Stubø, eine Kaffeetasse mit Gravur sämtlicher Tunnels der Gemeinde Hamarøy.

      Natürlich würden sich manche nicht mit Anhalten aufhalten und einfach vorbeifahren, natürlich würden die meisten von ihnen mit heiler Haut ankommen. Manche, nicht viele, nur die eine oder der andere, würden bereuen, umkehren und zurückfahren und ein paar Worte murmeln, während sie eine Bußgabe niederlegten; unter diesen Umkehrern gäbe es auch einige, aber hier sprechen wir über wirklich wenige, die dennoch nicht so ankommen würden, wie sie das sollten.

      In dieser Straßentradition kann man sich einen Altar etwa für Ole Gjermund Hynde vorstellen, auf der Küstenstraße zwischen Kristiansand und Haugesund: ein Altar, stetig gewachsen seit dem ungewollten Verlassen der Straße am 8. April 1975 bei Nærbo, vier Meter und vierzig Zentimeter misst er an seinem höchsten Punkt, zudem wächst er in die Breite. Neue Gaben werden auf einen Vorsprung des ursprünglichen Altars abgelegt und auf ein Gerüst, das diesen teils abstützt, teils durch neue Ebenen erweitert und in ihn hineinwächst. Ole Gjermund Hynde wollte nur schnell zum Laden, jetzt ist er eine Art Gottheit, und während der Laden längst geschlossen wurde, ist es zumindest vorstellbar, dass im Laufe der Jahre sowohl der Arne-Garborg-Steinkopf, der zwischen die Felsbrocken bei Knudaheio gedrungen ist wie der Götterkopf aus Rekeland in Dalane, beim Steinaltar für Pferdeopfer für den Fruchtbarkeitsgott Frøy, miteinander verschmelzen und für kultische Repräsentationen von Ole Gjermund Hynde gehalten würden.

      Doch solche Straßenbräuche wird man nur in anderen Ländern finden, in Norwegen behält der Asphalt das letzte Wort, was einem nie verlöschenden Licht am nächsten kommt, ist der Schein eines weißen Monds auf einer nassen Fahrbahn.

      Als Aud Berre eines Tages in der Kurve steht, in der ihre Mutter seinerzeit verschwand, gibt es daher kein Wiedererkennen. Sie ist nicht zum ersten Mal zurückgekommen, aber das letzte Mal muss zehn, vielleicht zwölf Jahre her sein. Es hätte jede beliebige Kurve, jede beliebige gesprengte Stelle sein können. Sie nimmt an, sie ist am richtigen Ort, sicher ist sie nicht; der Stein in der Schneise wirkt vielleicht dunkler. Es hätte jeder beliebige Stein sein können, jede beliebige Kurve.

      Landschaften verändern sich. Sind nicht auch die Augen mit der Zeit so voller Bilder, dass weniger Licht eindringt? Auds Schultern bewegen sich im Kapuzenpulli. Wie gleichgültig, wie unberührt dieser Ort von dem ist, was geschah. Vom Augenblick, dem Ausbruch, den sich niemand vorstellen kann, im Grauen und Normalen, aus dem ein solcher Tag besteht. Eine solche Straße.

      Genauso wenig wie sie sich das vorstellen kann, kann sie sich daran erinnern. Aber sie weiß, hier wurde sie zum zweiten Mal geboren, freigesägt aus einem Leib aus Metall und Feuer. Zusammen mit Maud. Zum zweiten Mal.

      Allein ist sie noch nie zur Welt gekommen.

      Sie will weder etwas an dem Ort niederlegen noch etwas aufheben und mitnehmen. Jetzt, da sie mit dem Rücken dazu steht, ist sie immer noch unsicher, ob es wirklich hier geschah. Im Auto, fünfzig Meter entfernt auf einem Rastplatz, sieht sie schemenhaft das Gesicht von Maud.

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