Diese grundsätzlich paradoxe Haltung der widersprüchlich und zurückhaltend agierenden kantonalen Behörden wurde erst in den Rekursfällen der Zwischenkriegszeit thematisiert. So sollte beispielsweise Augustin Cahannes 1930 bemerken: «Vollständig unbegreiflich ist es, dass der Kleine Rat zu gleicher Zeit, als er die Bürgergemeinde mit der politischen Gemeinde prozessieren lässt, erklären kann, dass die erstere ein Organ der letzteren sei.»257
Korporativer «Bürgersinn» oder «ächt liberaler Sinn»? Der Churer Schulfondsstreit 1882-1885
Ein abschliessendes Beispiel führt zurück nach Chur. Es soll illustrieren, wie der «bürgerliche Wertehimmel» im neuen Kräfteverhältnis zwischen Bürgergemeinde und politischer Gemeinde ein wichtiges Argumentationsprinzip blieb. Wieder war die Bündner Haupstadt der Ort, an dem die Gemeindebürger nicht nur ökonomische Interessen, sondern explizit bürgerliche Normen zum Einsatz brachten, um ihre altrepublikanischen Exklusivrechte gegen den Zugriff des Kantons zu verteidigen.
Zankapfel wurde der Schulfonds, der gemäss Ansicht des Stadtrats untrennbar zu den Schulen gehörte, die 1875 unbestritten in das Eigentum der neuen Gesamtgemeinde übergegangen waren.258 Der Bürgerrat weigerte sich aber zu Beginn des Jahres 1882, einen 1841 noch zur Zeit der Churer Zunftordnung eingerichteten Teil des Schulfonds der Politischen Gemeinde zu überschreiben. Im Januar 1883 rekurrierte der Stadtrat in dieser Sache bei der Kantonsregierung. Im November desselben Jahres entschied der Kleine Rat, die Bürgergemeinde habe den Schulfonds an die politische Gemeinde abzutreten.259 In seiner Argumentation formulierte der Kleine Rat einzig die juristische Seite des Problems. Die Frage der Gemeindeeinheit berührte er nur implizit, als er in Erwägung zog, «dass der Mitgenuss an gemeindlichen Schulanstalten [worunter auch finanzielle Mittel fielen, S. B] durch schweizerische Niedergelassene, nach Massgabe der in unserem kantonalen Niederlassungsgesetz enthaltenen staatsrechtlichen Grundsätzen zu erfolgen hat».260
Daraufhin druckte der Bürgerrat den Rekursentscheid und die bis dahin erfolgten Repliken und Dupliken, nachdem «die öffentliche Meinung durch einige tendenziöse Artikel in einem hiesigen Blatte irrgeleitet und die Bürgerschaft durch dieselben auf eine unwürdige Weise verhöhnt»261 worden war. Es war der erste Rechtsstreit zwischen einer Politischen Gemeinde und einer Bürgergemeinde in Graubünden, bei dem das Aktenmaterial publiziert wurde. Offenbar war die Frage von einiger öffentlicher Relevanz, und der Bürgerrat sah sich gezwungen, «dem Publikum die Streitfrage klar und deutlich, der Wahrheit getreu, vor Augen zu führen».262 Der Bürgerrat verstand den Schulfonds «seiner Natur und seinem historischen Herkommen gemäss» als ortsbürgerliche Stiftung, weil 1841 eine Gruppe von 134 ehemaligen Zünftern ihr Zunftvermögen für die Kinder der Gemeindebürger gestiftet habe.263
Neben juristischen Argumenten zielte die Argumentation des Bürgerrates auf Elemente des «bürgerlichen Wertehimmels». Vertreten durch ihren ersten Bürgermeister Jakob Risch und Bürgerratsschreiber Hieronymus Salis,264 versuchte er «die wirkliche Absicht der Stifter» zu beweisen und gab zu bedenken, dass «wohl wenige Leute in der Zukunft zu solchen Opfern» bereit seien, falls «von einer Administrativbehörde seine Institution missachtet, seine Urkunde beseitigt oder falsch ausgelegt, seine Stiftungsverwaltung aufgehoben und das gestiftete Vermögen der Gemeinde inkorporirt wird, der er es nicht geben wollte».265
Der Bürgerrat sprach damit das mäzenatische Handeln der 134 ehemaligen Zünfter an.266 Ein zentrales Moment bürgerlichen Mäzenatentums war, «Fehlentwicklungen in der modernen Gesellschaft»267 zu steuern, also da einzugreifen, wo sich der Staat ungenügend engagierte. Im konkreten Fall bestand die Absicht von 1841 in der «Bildung und Veredlung unserer Jugend», wobei umstritten war, ob nur den Churer Gemeindebürgern das Schulgeld für ihre Kinder erlassen werden sollte. Eine solche exklusive Verwendung des Fonds hatte jedoch nie stattgefunden.268 So oder so bestand der «Bürgersinn» dieser Mäzene in der zukünftigen Sicherung des Gemeinwohls. Dieses Engagement der Gemeindebürger lohnte sich vor allem deswegen, weil es den Verlust ihrer zünftischen Rechtsprivilegien teilweise kompensierte: Sie erkauften sich mit Geld Kulturprestige, das sie mit ihren zünftischen Rechtsprivilegien wenige Jahre davor verloren hatten. Die Stiftung war ähnlich wie der fast gleichzeitig (1842) gegründete Bürgerverein ein bewusster Zusammenschluss eines grossen Teils der Gemeindebürger zur Sicherung ihrer sozialen und kulturellen Hegemonie nach Ende der Zunftverfassung.
Der Stadtrat, vertreten durch den Stadtpräsidenten und Churer Gemeindebürger Albert Wassali, argumentierte in seiner Vernehmlassung vom 3. Januar 1884 ebenfalls mit dem «Bürgersinn» der Stifter. Er liess aber das Argument des Bürgerrates, eine «Sorge auch für die nichtbürgerlichen Einwohner» habe «keineswegs in dem Geiste und den Anschauungen der damaligen Zeit» gelegen, nicht gelten.269 Den Stiftern habe vielmehr eine liberal-universalistische Entwicklung der modernen Gesellschaft vorgeschwebt: Der damalige Amtsbürgermeister Simeon Bavier biete «Gewähr» dafür, dass das Zunftvermögen nach Ende der Zunftverfassung nicht nur den Gemeindebürgern gestiftet worden sei, vielmehr hätte Bavier so etwas «in seinem ächt liberalen Sinne» abgelehnt, sodass «es geradezu als unverdiente Beleidigung seiner Manen erscheint, jenem Beschlusse so engherzige Motive unterzuschieben».270
Der Rekurs der Bürgergemeinde an den Grossen Rat blieb schliesslich erfolglos. Endgültig wurde der Streitfall jedoch erst 1885 vor Bundesgericht entschieden. Die Bürgergemeinde musste den Schulfonds mitsamt den Erträgen der letzten zehn Jahre der Stadt übergeben – summa summarum über 312 000 Franken.271
Der Churer Schulfondsstreit blieb im 19. Jahrhundert der einzige über mehrere Instanzen geführte Rekurs zwischen einer Bürgergemeinde und einer Politischen Gemeinde. Er macht aber noch einmal deutlich, dass die beiden Institutionen, hervorgegangen aus einem Niederlassungsgesetz, das für die modernen Ansprüche der Gemeindeorganisation nicht ausgelegt war, über die Interpretation dieses Niederlassungsgesetzes zu streiten begannen. Allein schon die Institutionalisierung von Bürgergemeinden, die es gemäss mehreren offiziellen Verlautbarungen in den kantonalen Behörden nicht geben sollte, machte ein ortsbürgerliches Bewusstsein deutlich, mit dem der Kanton weiterhin rechnen musste. Zu welch heftigen Streitigkeiten der Bündner Gemeindedualismus ab den 1920er-Jahren noch führten sollte, ahnten die Regierungsräte und Grossräte des Fin de Siècle vermutlich noch nicht.
4 Die kurze Reaktion der 1890er-Jahre
In den 1890er-Jahren kam neuer Unmut über das kantonale Niederlassungsgesetz auf. Gleich zwei Mal wurde versucht, mit sogenannten «Bürgerinitiativen» die umstrittene Regelung zu revidieren. Treibende Kraft war ein prominenter Nachkomme der vormodernen Führungsschicht Graubündens: Theophil Sprecher von Bernegg, der spätere Generalstabschef im Ersten Weltkrieg.1 Das Kapitel zeigt, wie der Maienfelder als Teil der in der Schweiz im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts aufkommenden «neuen Rechten» versucht hat, den immer noch «unbewältigten Rechtszustand»2 der internen