Jost erklärt diese ab den 1890er-Jahren entstehende «neue Rechte» mit der Krise des Freisinns, dem es nicht gelang, die Widersprüche der wirtschaftlichen Entwicklung und die Dissonanzen einer von «Bundesbaronen» dominierten Politik zu bewältigen.24 Die konservativen Erneuerer sabotierten die liberale Gesetzesmaschinerie des Bundes, bereits in den 1880er-Jahren beginnend, bis in die späten 1890er-Jahre mit Schlagworten wie «Freiheit» oder «Föderalismus», die dem zentralstaatlichen «Vogt» gegenübergestellt wurden.25 Die Bezugspunkte der «reaktionären Avantgarde» waren die traditionelle Schweiz, die dem «dummen Materialismus» (de Reynold) gegenübergestellt wurde, dann die vaterländischen Mythen, der Heroismus der Vorfahren und ein religiöser und aristokratischer Autoritarismus.26 Es waren heile Gegenwelten, mit denen man die «Entzauberung der Welt» (Max Weber), die Verlusterfahrungen einer sich rasant rationalisierenden Gesellschaft kompensieren wollte.27
Gewiss waren bei Theophil Sprecher von Bernegg um 1894 nicht alle diese Bezugspunkte ausgeprägt. Einen aristokratischen Paternalismus, wie er sich später beim Freiburger Gonzague de Reynold im Zuge einer in der Zwischenkriegszeit verschärften Rechtsentwicklung ausgebildet hat, sucht man bei Sprecher von Bernegg vergebens.28 Dennoch findet man das Grundmuster der «beständigen Evokation der alten, sogenannt vorrevolutionären Werte», die im Verbund mit ahistorischen Mythen Prinzipien des Ancien Régime wiederbeleben wollten29 – auf Kosten einer liberal-universalistischen bürgerlichen Gesellschaft. Insofern konstruieren Begriffe wie «Volksgeist» oder «Weltwesen» Mythen, wie sie von Roland Barthes beschrieben worden sind: «Der Mythos entzieht dem Objekt, von dem er spricht, jede Geschichte.»30 Drei Jahrzehnte bevor Gonzague de Reynold in seinem Werk La démocratie et la Suisse eine «politische Romantik» vertrat, ist diese Haltung bereits bei Sprecher von Bernegg feststellbar.31
In dieser Denkart wurden die Bürgergemeinden zu den «besten Elementen unseres kleinen Staatswesens»32 gemacht. Es versteht sich von selbst, dass Sprecher, der die Rechte der Gemeindebürger durch den Kanton massiv bedrängt sah, den Antizentralismus auch im Grossen Rat vertrat: «Die Gemeinden bestanden vor dem Staat», und darum sei es «eine krankhafte, allerdings weit verbreitete Ansicht, alles Recht komme vom Staat», erklärte er.33 Das Fahnenwort der Gemeindeautonomie blieb in diesen Aussagen noch einigermassen diffus. Es plädierte sowohl für die altrepublikanische Selbstverwaltung der Gemeindebürger (die der Kanton zum überwiegenden Teil bereits 1874 zerschlagen hatte) als auch gegen den zentralisierenden Zugriff eines etatistisch-liberalen Kantons auf die Gemeindeautonomie der seit 1875 bestehenden Politischen Gemeinden.
Die Konjunktur der Gemeindeautonomie
Die Gemeindeautonomie war Mitte der 1890er-Jahre keine neue Erfindung. Theophil Sprecher von Bernegg übernahm wie ein Jahr zuvor der Maienfelder Bürgerrat einen Begriff, der sich gut an die Frage der alten Rechte der Gemeindebürger anschliessen liess. Das Fahnenwort der Gemeindeautonomie oder Gemeindesouveränität war in Graubünden das Emblem der Verfechter des altrepublikanischen Föderalismus, der seit der Etablierung des modernen Kantons in Abgrenzung zum liberal-progressiven Etatismus einen der beiden Hauptströme in der Bündner Politik konstituierte. Seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Frage der Gemeindeautonomie praktisch omnipräsent – also schon lange bevor es darum ging, die alten Rechte der Gemeindebürger zu erhalten oder auszubauen.
Ende des 19. Jahrhunderts war die Rede von der historisch begründeten Autonomie der Gemeinden etwas, das bereits vielfach durch diverse Medienformate popularisiert worden war: Offen kritisch hatte Peter Conradin von Planta darüber im von ihm 1842 mitbegründeten Reformverein oder in dessen gleichzeitig begründeter Zeitschrift Pfeil des Tellen geurteilt. Dabei war es beispielsweise um Fragen der Forstwirtschaft oder der Organisation der Gerichte gegangen.34 Doch selbst liberale Positionen gaben der Bündner Gemeindeautonomie mitunter einen relevanten Wert im Bündner Staatsaufbau. Der Liberale Alpenbote hatte beispielsweise 1853 in seiner Kritik an der fehlenden kantonalen Ordnung für die innere Organisation der Gemeinden eingeräumt: «Wahr ist zwar, dass unser freies und selbstständiges Gemeindewesen der köstlichste Schatz ist, den unsere Vorfahren uns überlieferten.»35
Noch positiver gelagert war die von der katholisch-konservativen Gasetta Romonscha im Zuge der Demokratischen Bewegung vorgebrachte Vorstellung gewesen, die ehemalige Gerichtsgemeinde Disentis sei die «Wiege des Referendums».36 Zwar hatte dies nicht die lokale Selbstverwaltung in den Gemeinden betroffen, sondern die direktdemokratischen Steuerungsmöglichkeiten der Stimmbevölkerung als Gegengewicht zum etatistischen Zugriff des Kantons. Argumentativ funktionierte die Verteidigung dieser Art von Selbstbestimmung aber ähnlich wie jene der lokalen Gemeindeautonomie. In gleicher Weise wurde von katholisch-konservativer Seite auch die Autonomie des Kantons gegenüber dem Bund verteidigt.37
Nun fällt aber auf, dass erstens die Gemeinde an und für sich wie auch das Phänomen der Gemeindeautonomie in der Bündner Geschichtswissenschaft gerade erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Begriff wurde. Es ist deshalb nur bedingt so, dass «die Geschichte der Bündner Gemeinde auch die Geschichte der Bündner Geschichte überhaupt reflektiert».38 In den frühen Überblicksdarstellungen zur Bündner Geschichte fehlte die Gemeinde nämlich lange als eigener Gegenstand der Untersuchung, tauchte nur als Bestandteil anderer Fragen oder am Rand auf. Nimmt man die Überprüfbarkeit der Ergebnisse als Kriterium für moderne Geschichtsforschung, so kann man zu diesen wissenschaftlichen Darstellungen bereits den anonym erschienenen Grundriss der Geschichte Gmeiner drey Bündten von 1773 zählen. Dank elektronischer Volltextsuche bei Google Books lässt sich zumindest für alle Werke bis und mit Conradin von Moors Geschichte von Currätien und der Republik «gemeiner drei Bünde» (1870/71) und Wolfgang von Juvalts Forschungen über die Feudalzeit im Curischen Raetien (1871) leicht feststellen, dass diese Darstellungen nicht nur der Gemeinde keine gesonderte Betrachtung widmeten, sondern auch an keiner Stelle einer historisch glorifizierten Gemeindeautonomie (aktuelle) Bedeutung einräumten.39 Eine Durchsicht von Johann Andreas Sprecher von Berneggs Geschichte der Republik der drei Bünde (1872/1875) und Peter Conradin von Plantas Die currätischen Herrschaften in der Feudalzeit (1881) führt zum selben Resultat.40
1896, zwei Jahre nachdem Sprecher seine Initiative verfasst hatte, promovierte Alois Steinhauser aus Sagogn (Kreis Ilanz) über das Das Zugrecht nach den bündnerischen Statutarrechten. Mit einem Exkurs über die «Bündnergemeinde». Im Zuge der in der Schweiz gegen Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden Verwissenschaftlichung des Advokatenberufes41 war er einer der ersten einer ganzen Reihe junger Bündner Juristen, die einen rechtlichen Aspekt um das Thema «Gemeinde» für ihre Promotion gewählt haben. Steinhauser, Sohn des wohlhabenden Nationalrats Anton Steinhauser, wandte sich just um 1900 vom linksliberalen Kurs seines Vaters ab und schloss sich dem konservativ-katholischen Lager um den Trunser Nationalrat Caspar Decurtins an.42 Decurtins war neben Theophil Sprecher von Bernegg ein weiterer Bündner Exponent der «reaktionären Avantgarde». Er war neben dem Verleger der Gasetta Romonscha, Placi Condrau, «Chefideologe»