Gemeindebürger, Niedergelassene und Ausländer. Simon Bundi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Simon Bundi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199143
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der Diskurs um das Rechtsverhältnis von Gemeindebürgern und Niedergelassenen in Graubünden. Anstelle des Austarierens von Werten wie «Bürgersinn» oder spiessbürgerlichem «Eigensinn» rückten nun die bereits punktuell angesprochenen «alten Rechte der Bürger» in den Vordergrund, gepaart mit dem seit 1896 von katholisch-konservativer Seite rechtswissenschaftlich fundierten Fahnenwort der Gemeindeautonomie. Zwei weitere Merkmale tauchten mit Sprechers «Bürgerinitiativen» auf und trugen ebenfalls dazu bei, den politischen Diskurs um die Bürgergemeinde auf eine neue Ebene zu führen: Die Gegner des Niederlassungsgesetzes stellten nun nicht mehr nur dessen Nachteile für die Gemeindebürger infrage. Sie konstruierten vielmehr eine prinzipielle Frontstellung zwischen Altrepublikanismus und Etatismus, das heisst in diesem Fall zwischen autonomen Bürgergemeinden und einem als liberal-zentralistisch empfundenen Kanton – ein Spannungsverhältnis, das natürlich spätestens seit Mitte der 1870er-Jahre vorhanden, bisher aber nicht kontrovers debattiert worden war. Die Auseinandersetzung um den Wert und die Bedeutung der Bündner Bürgergemeinden wurde zudem zur scharfen Gegenreaktion, ja zu einem «Krieg der Bürger»,3 wie ihn die bisherige Auseinandersetzung um das Rechtsverhältnis zwischen Gemeindebürgern und Niedergelassenen in Graubünden noch nicht erlebt hatte. Die Diskussion im Vorfeld der Abstimmung um die zweite Bürgerinitiative Ende 1899 war mit ihren Metaphern des Kampfes der vorläufig letzte Höhepunkt in diesem Diskurs. Abschliessend kehre ich mit dem Abstimmungsergebnis von 1899 noch einmal zur Bedeutung der Gemeindeautonomie zurück. Dank der Konjunktur dieses seit dem ausgehenden Jahrhundert zwischen populärer und wissenschaftlicher Wissensformation zirkulierenden Begriffs fand die zweite «Bürgerinitiative» auch in katholisch-rätoromanischen Gemeinden Aufnahme, obwohl diese meist einen geringen Grad an Niedergelassenen aufwiesen und noch 1874 für das liberale Niederlassungsgesetz gestimmt hatten.

      4.1 Mit den «alten Rechten» gegen den «Allerweltskulturstaat»

      Gemessen an ihrer restriktiven Verwaltungspraxis bestand in der Stadt Maienfeld bereits vor dem Niederlassungsgesetz von 1874 ein ausgeprägtes ortsbürgerliches Bewusstsein. So war in Maienfeld um die Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel die Abgabe von Brennholz an die Niedergelassenen verboten, während zahlreiche andere Gemeinden dies liberaler als die Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes von 1853 handhabten.4 Welche Bedeutung die altrepublikanische Korporation in Maienfeld hatte, zeigt nicht nur die spätestens in den 1890er-Jahren mit der Statuierung eines Maienfelder Bürgerrates vorgenommene institutionelle Abgrenzung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde. 1893 stellte der Maienfelder Bürgerrat im Vorfeld der ersten Volkswahl der Bündner Regierung gar ein Ausschreiben an die Herren Vorsteher der ehrs. Bürgergemeinde auf. In diesem für die Geschichte der Bündner Bürgergemeinden singulären Dokument wurde allen Gemeinden, die «auf Erhaltung ihrer alten und guten Rechte Werth legen», der Fläscher Regierungsstatthalter Thomas Marugg als Anhänger «des allgemeinen bündnerischen Bürgerprinzips und als Verfechter der Gemeinde-Autonomie»5 erfolgreich gegen den späteren Bundesrat Felix Calonder zur Wahl empfohlen. Immerhin war für den Maienfelder Bürgerrat «die angestammte Freiheit und Souveränität der bündnerischen Gemeinden eine der ehrwürdigsten und wertvollsten Grundlagen unseres kleinen Staatswesens»,6 wie das Ausschreiben gleich einleitend klarmachte. In aller Deutlichkeit wurde jene Verbindung hergestellt, auf die bis dato in den Quellen nur am Rand oder indirekt hingewiesen wurde: Die Verteidigung der altrepublikanischen Rechtsprivilegien der Gemeindebürger wurde explizit zur Frage der Behauptung der Gemeindeautonomie gegen den Zugriff des etatistisch-liberalen Kantons gemacht.

      Zehn Monate später trat ein Maienfelder Initiativkomitee mit Theophil Sprecher von Bernegg an der Spitze auf den Plan. Es schnürte gleich ein ganzes Paket von Vorschlägen.7 Auf dem Weg einer Verfassungsänderung sollte den Bürgergemeinden neben dem ihnen bereits durch das Niederlassungsgesetz von 1874 garantierten Armenvermögen und den Bürgerlösern das im Niederlassungsgesetz nicht explizit definierte Eigentum am umstrittenen Nutzungsvermögen (Alpen, Weiden, Wälder) wieder zugesprochen werden. Gänzlich konträr zum Niederlassungsgesetz stand der Vorschlag, die Verwaltung dieser Alpen, Weiden und Wälder auch wieder der Bürgergemeinde zuzusprechen. Dem schlossen die Initianten einen detaillierten Gesetzesentwurf für die Bürgergemeinden an.8 Dies bedeutete nicht weniger als die «Schaffung von Bürgergemeinden mit voller territorialer Hoheit und uneingeschränkten Nutzungs- und Verwaltungsbefugnissen, soweit sie diese ihre Rechte nicht auf eine Politische Gemeinde übertragen wollten».9 Man wollte den Gemeinden die Möglichkeit geben, die Rechtsprivilegien der Gemeindebürger wieder stärker auszubauen. Wie stark das partikularistische Denken bei der Eingabe leitend war, zeigt die zweite Bestimmung der Eingabe: Die Politische Gemeinde sollte befugt werden, einzelne Zweige der Verwaltung ihren untergeordneten Ortschaften (Fraktionen) zu übertragen. Damit sollten «wohlerworbene», «gesonderte Fraktionsbürgerrechte» wiederhergestellt werden, da in verschiedenen Gemeinden einzelne Gemeindesiedlungen in der Vergangenheit Eigentum erworben hatten, dessen Verwaltungs- und Verfügungsrecht diesen Fraktionen von den kantonalen Behörden abgesprochen worden war.10

      Die auf Deutsch, Sursilvan und Italienisch gedruckte Broschüre Motive zum Initiativ-Begehren betr. die bündnerischen Gemeinde-Verhältnisse insbesondere die Bürgergemeinde von 1894 argumentierte ausführlich für die Vorschläge. Die Argumentation streifte dabei die Rechtsentwicklung der letzten drei Jahrzehnte nur, das Schwergewicht des Textes lag eindeutig abseits der juristischen Interpretation. Die Broschüre reproduzierte die bekannten Positionen der Verfechter der Bürgerrechte der 1850er- und 1860er-Jahre. Statt bürgerlicher Werte traten nun aber als Argumente vermehrt die «Geschichte» und ahistorische «Wesenseigenheiten» in den Vordergrund. Daran schloss sich ein modernisierungskritischer Gestus gegenüber dem Kanton an, der in dieser Schärfe im Diskurs um die Bürgergemeinde neu war.

      Dem liberalen Axiom der Freizügigkeit wurden historische Werte der langen Dauer wie «wohlerworbene Rechte» gegenübergestellt,11 ein Begriffspaar, das einige Malanser Gemeindebürger schon 1880 in einem Rekurs gegen die dortige Politische Gemeinde benutzt hatten12 und das seitdem immer wieder aufgetaucht war.13 Die Vorstellung einer Kontinuität vormoderner Errungenschaften aus dem Prozess der Entfeudalisierung paarte sich mit ahistorischen Vorstellungen eines natürlichen Zustands, wie sie seit dem 18. Jahrhundert von der gegenaufklärerischen Romantik vorgebracht wurden. So stellte das Initiativkomitee die Ausstellung von Heimatscheinen als etwas dar, das zur «ureigensten Kompetenz» der Bürgergemeinde gehöre,14 und bestimmte Grossratsbeschlüsse als ein «unserem Volksgeist widersprechender» Zwang.15 Die Gemeindebürger waren der «Kern» der Gemeinde, die als Garanten für dessen Erhalt standen. Im Fokus stand der Angriff des Kantons auf die kommunalen Angelegenheiten:

      Abb. 2: Theophil Sprecher von Bernegg (1850-1927), der spätere Generalstabschef der Schweizer Armee, war als Teil der «neuen Rechten» in den 1890er-Jahren Initiant der zwei reaktionären «Bürgerinitiativen» (Aufnahme während des Ersten Weltkriegs).

      Wer nicht einen mit dem Weltwesen in Widerspruch stehenden Idealismus zur Schau trägt, wird erfahrungsgemäss zugeben, dass der Bürger nur dann mit Luft und Liebe an der Erhaltung seines Gemeinwesens arbeitet, wenn er der Ueberzeugung ist, dass die Früchte seiner Arbeit auch ihm und seinen voraussichtlichen Rechtsnachfolgern verbleiben und dass nicht jeder, der des Weges kommt und vorüber zieht, durch einen gesetzlichen Federstrich in die Rechte eingesetzt werden kann, für deren Schaffung und Erhaltung der Bürger einen guten Theil seiner Zeit und Kraft geopfert hat.16

      Dieser «gesetzliche Federstrich» war in Gestalt des Niederlassungsgesetzes von 1874 «Ausgeburt einer ungesunden Parteipolitik»,17 Resultat der «radikalen Neuerungssucht».18 Dabei wäre es, so die Broschüre, viel wichtiger, «dass unser Allerweltskulturstaat sich wieder einmal seines Ursprungs erinnere und seiner ersten Aufgabe, ein Beschützer und Schirmer des Rechts zu sein».19 Stattdessen habe sich, so die sarkastische Spitze der Broschüre, das «trübe Auge der Bureaukratie» zum Ziel gesetzt, alle Rechte «in der alleinseligmachenden politischen Gemeinde» zu konzentrieren.20