Im Folgejahr kam weiterer Unmut in Form einer Petition auf. In 31 Gemeinden hatten Gemeindebürger einen Antrag unterschrieben, der bereits im Dezember 1875 dem Grossen Rat vorlag. Da die Eingabe gedruckt wurde, hat man schon im Grossen Rat vermutet, dass sie allen Gemeinden des Kantons verschickt worden war.232 Unter dieser Voraussetzung ist die Petition ein guter Gradmesser für die Akzeptanz des Niederlassungsgesetzes. Potenziell waren also 186 Gemeinden des Kantons dem Begehren nicht gefolgt.233 Unter den unterzeichnenden befanden sich die Prättigauer Gemeinden Jenaz, Luzein, Schiers und Küblis, die Schanfigger Gemeinden Langwies und Maladers inklusive das angrenzende Churwalden, alle Gemeinden der Kreise Maienfeld, Fünf Dörfer (ausser Says) und Rhäzüns, einige Gemeinden entlang des Hinterrheins (Donat, Fürstenau, Thusis, Splügen, Zillis-Reischen) und drei aus dem Albulatal (Filisur, Stugl, Tiefencastel). Lediglich eine Gemeinde aus der Surselva (Andiast), eine aus dem angrenzenden Kreis Trin (Felsberg) sowie zwei aus Südbünden (Ardez, Roveredo) hatten die Petition unterzeichnet.234 Die Kreise Maienfeld und Fünf Dörfer und die vier Prättigauer Gemeinden hatten bereits das Niederlassungsgesetz abgelehnt.
Die Eingabe von 1875 bezweckte, das Niederlassungsgesetz zu revidieren, weil es «den bäuerlichen Mittelstand» durch zu weitgehende Freiheiten für die Niedergelassenen schädige, Alpen und Wälder übernutzt würden und viele Streitigkeiten und Rekurse entstünden. Wenn nun die 31 Petenten die Kontrolle über das Nutzungsvermögen zurückwünschten, bildet die Petition nichts anderes als die Fortführung der Ablehnung des Niederlassungsgesetzes aus ökonomischem Eigeninteresse, wie es bereits bei der Abstimmung für zahlreiche Gemeinden handlungsleitend gewesen war. Überlegungen zum Wert historischer Kontinuitäten fehlen in der gedruckten Schrift völlig. Zur Sprache kam einzig und allein der finanzielle Eigennutz.235
Der Grosse Rat wies die Petition als teilweise unbegründet und übertrieben zurück, beauftragte den Kleinen Rat und die Standeskommission aber, Ausführungsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz vorzubereiten.236 Der Grosse Rat setzte sich demnach zum Ziel, durch präzisere Vermittlung die nötige Stabilität des neuen Rechts in jenen Gemeinden herzustellen, wo diese neue Norm umstritten war. Das Vorhaben verlief aber im Sand und liess bis 1890 auf sich warten. Der Kleine Rat seinerseits begnügte sich in den folgenden Jahren damit, korrigierend einzugreifen – und liess dabei ein konsequentes Vorgehen vermissen.
Die Tolerierung des Gemeindedualismus und die Beschwörung der Gemeindeeinheit
Unter den Petenten, die bereits früh eine institutionelle Abgrenzung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde vorgenommen hatten, war die Gemeinde Thusis. Im damals noch wichtigen Warentransitort mit einem Anteil Niedergelassener von 66 Prozent war im Frühjahr 1875 «[z]ur Wahrung und Verwaltung der bürgerlichen Interessen» ein Vorstand gewählt worden.237
Bereits am 9. Juli desselben Jahres beschloss die Bürgerversammlung von Thusis, an den Kleinen Rat zu rekurrieren, weil die Politische Gemeinde verlangt hatte, ihr die Bürgerlöser seit Herbst 1874 zu versteuern. Noch bevor der Sommer zu Ende war, ersuchte die Bürgergemeinde aus einem weiteren Grund den Rekurs an die Regierung: Die Politische Gemeinde hatte beschlossen, ihr falle das Eigentum am Gemeindewald zu und der Holzschlag sei zunächst für Lehrer, Pfarrer und Schule bestimmt.238 Im Herbst entschied der Kleine Rat in der ersten Frage zugunsten der Bürgergemeinde, dass die Bürgerlöser lediglich ab sofort der Politischen Gemeinde zu versteuern seien.239 In der zweiten Frage entschied der Kleine Rat 1877, dass zwar das Eigentum am Nutzungsvermögen den Gemeindebürgern belassen werde, dass dasselbe aber in erster Linie zur Bestreitung der öffentlichen Gemeindebedürfnisse hinzugezogen werden müsse.240 Im selben Jahr hiess die Regierung eine Beschwerde der Bürgergemeinde Thusis gegen die Festsetzung der Losholztaxen durch die Politische Gemeinde gut.241
Die gleiche Haltung nahm die Regierung einige Jahre später in einem Rekursfall in Samedan ein. 1885 kam es dort zu einem Rekurs der Bürgergemeinde gegen die Politische Gemeinde. Letztere erkannte zwar Eigentum und Veräusserungsrecht der Bürgergemeinde an den Gemeindealpen an, reklamierte für sich aber das Recht der Verwaltung und Nutzung, worin ihr der Kleine Rat entsprach. Gleichzeitig sicherte die Regierung das Eigentumsrecht an besagten Alpen explizit der Bürgergemeinde zu.242
Vorläufig kann festgestellt werden, dass der Kleine Rat neben der Politischen Gemeinde auch die Bürgergemeinde als Rekurrentin implizit anerkannte und Nutzungs- und Veräusserungsfragen nach den eindeutigen Bestimmungen von Artikel 16 des Niederlassungsgesetzes entschied.243 Die Frage, wem das Eigentum am Nutzungsvermögen zukam, war noch nicht Gegenstand dieser Rekurse. Offensichtlich störte sich noch niemand daran, dass es der Kleine Rat der Bürgergemeinde zuschlug. Die Regierung nahm offenbar den vielerorts entstandenen Dualismus zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde in Kauf, trotz den Streitigkeiten, die sich in diesen Jahren aus dem Vorhandensein zweier Körperschaften ergaben. Man verliess sich auf das Niederlassungsgesetz, das, wie sich ein Regierungsrat 1884 ausdrückte, «die Befugnisse der einen und andern Korporation [sic!] in § 16 bestimme».244
Es war denn auch lediglich die prinzipielle Mehrung dieser «Streitfälle und Konflikte», die dem Aroser Grossrat Hans Hold Anlass gab, 1884 eine Motion für die Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfs über die Bürgergemeinden einzureichen, die als erheblich erklärt wurde.245 Zur Begründung führte Hold an, dass die Kantonsverfassung zwar den Grundsatz der Gemeindeeinheit aufstelle, gleichzeitig aber die Bürgergemeinden anerkenne. Dieser Dualismus sei «ein Übelstand». So wie der Kleine Rat beide Körperschaften implizit als Rekurrenten anerkannte, fordert auch Hold nicht die Auflösung der Bürgergemeinden, sondern lediglich eine genauere Regelung beider Körperschaften. Die Stellung der einen zur anderen Gemeinde sei trotz Niederlassungsgesetz «eine ganz unklare; die Rechte der Bürgergemeinden und Korporationen sind nicht festgestellt und gehörig ausgeschieden». Ein anwesender Regierungsrat entgegnete dem, die Bestimmungen des Niederlassungsgesetzes seien völlig ausreichend, im Übrigen entscheide der Kleine Rat bei Rekursen von Fall zu Fall.246 Auch dieses Vorhaben blieb liegen.247
Ein Jahr später sah sich Regierungsstatthalter Schenardi zusammen mit anderen Abgeordneten veranlasst, dem Grossen Rat eine Motion für die Revision des Niederlassungsgesetzes vorzulegen. Der Antrag hinterfragte die institutionelle Abgrenzung zwischen politischer Gemeinde und Bürgergemeinde ebenfalls nicht, führte aber an, das «Gesetz sei in manchen Bestimmungen unklar, zu wenig prägnant, gebe daher fortwährend zu vielen Rekursen Anlass und gewähre dem Kleinen Rathe bei deren [sic!] Entscheidung zu grossen Spielraum».248
Die Motion Schenardi und die noch unbehandelte Motion Hold übergab der Grosse Rat an eine Spezialkommission, die in einem zweiten Anlauf nach 1875 Ausführungsbestimmungen zum Niederlassungsgesetz aufstellen sollte.249 Im Wesentlichen stipulierten die am 20. Mai 1890 vom Grossen Rat verabschiedeten vier Paragrafen, dass die Höhe der Taxen für die Niedergelassenen bis 75 Prozent des vollen Handels- beziehungsweise Nutzungswerts betragen durften, Kapitalerlös aus verkauftem Gemeindevermögen der Politischen Gemeinde zufalle und die Gemeindebürger die Taxen der Politischen Gemeinde festlegen sollten und umgekehrt.250 Mehr konnte oder wollte die Spezialkommission nicht bestimmen. Grundlegende Fragen zum Status der Bürgergemeinden oder zum Eigentum am Gemeindevermögen regelte sie nicht. Da die Ausführungsbestimmungen von 1890 im Wesentlichen nur tagespolitische Detailfragen regelten, trugen sie wenig zur Klärung der Verhältnisse in diesem Bereich bei: Zwischen 1894 und 1919 strebten Private zu Fragen des Stimmrechts in Gemeindeangelegenheiten oder Nutzungen des Gemeindevermögens rund 100 Rekurse an.251 Die später in den 1890er-Jahren erlassenen Bürgerinitiativen sollten entsprechend mit der herrschenden «Rechtsunsicherheit» begründet werden.252 Dafür verschwanden die Rekurse zwischen Politischen Gemeinden und Bürgergemeinden bis in die 1920er-Jahre