Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: ARES
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199457
Скачать книгу
Revolution gar nicht geplant war.40 Koller schliesslich analysiert in seinem Beitrag «Die Rückkehr der Kosaken: Ordnungsdiensteinsätze bei Streiks vor und im Ersten Weltkrieg und die Schweizer Arbeiterbewegung» die Rolle der Armee und der Ordnungsdiensteinsätze in den zeitgenössischen Militär- und Streikdiskursen der politischen Linken. Einleuchtend führt er vor Augen, wie die Armee bereits während der Jahrhundertwende als Repressionsinstrument der bürgerlichen Klasse wahrgenommen wurde. Für den Herausgeber auffallend ist die Erkenntnis, dass sich diese Deutung auf die Armee beschränkt. Vergleichbare Diskursmuster zur Polizei sind kaum zu erkennen. Dabei verloren im Rahmen der Gewaltkonfrontationen mit der Polizei während der Zürcher Novemberkrawalle von 1917 (drei tote Arbeiter, ein toter Polizist) oder am 13. Juni 1919 anlässlich der Krawalle um das Zürcher Bezirksgebäude (zwei tote Arbeiter, ein toter Polizist)41 mehr Arbeiter ihr Leben als während des Landesstreikeinsatzes der Armee. Es scheint jedoch offensichtlich, dass die Ordnungsdiensteinsätze der Armee klassenkämpferisch besser zu skandalisieren waren als jene der Polizei. Weiter fällt auf, dass im November 1918 sowohl das forsche Vorgehen der Armee in Zürich als auch der zurückhaltende Truppenaufmarsch in Bern auf ihre jeweilige Weise die Lage beruhigten. Untersagte der Platzkommandant in Bern, Éduard Wildbolz, der Truppe explizit martialische Provokationen gegenüber den Streikenden, überschwemmte der Platzkommandant in Zürich, Emil Sonderegger, die Innenstadt förmlich mit Truppen und nahm den Streikenden damit jeden Raum, um sich als Bewegung irgendwie entfalten zu können.

      Das letzte Kapitel stellt die Leitidee des Bandes, die Geschichte des Schweizer Militärs insbesondere im Kontextrahmen des eigentlichen Weltkrieges zu beleuchten, wieder in den Vordergrund und widmet sich der ausländischen Perspektive auf die Schweiz und die Schweizer Armee. Peter Mertens geht in seinem Beitrag «Preussische Wunschbilder, schweizerische Suggestive? Beobachtungen zur Wahrnehmung und Beurteilung des Schweizer Militärs durch Exponenten des Deutschen Reiches» der für Schweizer Militärhistoriker hochinteressanten Frage nach, welchen Kampfwert deutsche Militärs der Schweizer Armee während des Ersten Weltkrieges eigentlich beimassen. Auf der Basis teilweise neuer Quellen kommt er zum Schluss, dass deutscherseits weniger die antizipierte militärische Dissuasionswirkung als vielmehr eine Kombination schweizerischer Selbstbilder und deutscher Perzeptionsmuster die Schweizer Armee in ein günstiges Licht setzte. Erwin Schmidl beleuchtet sodann in seinem Beitrag «Gedanken zu den militärischen Beziehungen zwischen der Schweiz und Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg» auf der Basis österreichischer Forschungsarbeiten die Kontakte zwischen den Generalstäben der beiden Länder. Dabei erhärtet sich das Bild weiter, dass Theophil Sprecher und der k. u. k. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf in den 1900er-Jahren sehr ernsthaft mit einem künftigen italienischen Angriffskrieg auch auf Schweizer Territorium rechneten und darauf ein militärisches Zusammengehen ihrer beiden Heere als auf der Hand liegend erachteten. Hierfür blieb für Sprecher der italienische Angriff aber bedingungslose conditio sine qua non, während Conrad sich ähnlich wie Moltke d. J. mittelfristig wohl eine grössere Schweizer Bündnisflexibilität erhoffte. Bemerkenswert sind überdies österreichische Forschungshinweise, wonach nach Abschluss der Oberstenaffäre Theophil Sprecher den Nachrichtenaustausch mit dem k. u. k. Generalstab selbst fortsetzte. Dimitry Queloz schliesslich beschliesst den Tagungsband mit seinem Beitrag «Regards français sur la neutralité suisse (1871–1918)». Er beleuchtet die schwierigen politischen Beziehungen und von Misstrauen geprägten militärischen Kontakte zwischen Frankreich und der Schweiz vor dem Ersten Weltkrieg. Die Nomination von Theophil Sprecher als Chef der schweizerischen Generalstabsabteilung beunruhigte den französischen Generalstab, der pompös inszenierte Besuch Wilhelms II. in der Schweiz im Jahre 1912 wurde argwöhnisch beäugt. Auch nach Kriegsausbruch hielt das französische Misstrauen in die schweizerische Neutralität an und führte im Jahre 1915 zur Erstauflage des bekannten Plan H der französischen Armee zum präventiven Einfall auf Schweizer Territorium zwecks Abwehr eines deutschen Umgehungsangriffs. Erst das Kriegsjahr 1917 brachte schliesslich den entscheidenden Umschwung und die vertrauensbildenden Gespräche zwischen Theophil Sprecher und Vertretern des französischen Generalstabes.

      Der vorliegende Tagungsband liefert keine abschliessende, detailsynthetisierende Gesamtbetrachtung zum Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg. Jedoch trägt er die wichtigste Forschung seit den 1990er-Jahren zusammen. Die diesem Band vorangegangene Tagung machte zudem etliche Forschungslücken erkennbar. Das Generalat Ulrich Willes bedürfte dringend einer genaueren Analyse. Dann ist jenseits der militärstrategischen Memoriale und Operationsentwürfe die von den Schweizer Truppenkommandanten ins Auge gefasste Kampfführung auf operativer und taktischer Stufe nicht adäquat aufgearbeitet. Damit einhergehend wäre entsprechend unbedingt der Ausbildungsbetrieb der Schweizer Armee zwischen Kriegsausbruch und Kriegsende genauer daraufhin zu untersuchen, inwiefern sich die revolutionierende Entwicklung der Krieg- und Kampfführung darin niederschlug. Dies betrifft Manöver, Truppenübungen, die Kriegsrekruten- und Kriegsoffiziersschulen, die Lehrgänge der Zentralschulen usw. Verwiesen sei an dieser Stelle immerhin auf das an der Militärakademie an der ETH Zürich laufende Forschungsprojekt zu den Auslandskommandierungen schweizerischer Offiziere zwischen 1898 und 1918. Im sozialhistorischen Bereich hat Marco Jorio aufgezeigt, wie die Einrichtung der sogenannten «Notunterstützung» bedürftiger Soldatenfamilien einer genaueren Erforschung harrt. Eine breite Untersuchung des Dienstalltages in einer grösseren Reihe von Truppenkörpern und Verbänden liesse es zu, die These der «Verzivilisierung» der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg zu überprüfen. Desweitern wäre zu untersuchen, wie sich die Kollektiverfahrung des Aktivdienstes auf die betreffende Schweizer Männergeneration sowie auf die Gesamtgesellschaft auswirkte. Hierzu wird in einigen Jahren das eben in Angriff genommene Dissertationsprojekt des ebenfalls an der Militärakademie an der ETH Zürich arbeitenden Nachwuchshistorikers Mario Podzorski zur Aktivdiensterfahrung des Schweizer Offizierskorps erste Antworten liefern können.

      Abschliessend sei mehreren Institutionen und Personen für ihre Unterstützung der Herausgabe dieses Tagungsbandes herzlich gedankt: Der Militärakademie an der ETH Zürich, der Schweizerischen Akademie für Geisteswissenschaften und der Bibliothek am Guisanplatz für die finanzielle Unterstützung des Publikationsprojekts. Rudolf Jaun für den stets gewinnbringenden Fachaustausch. Und meinen Mitarbeitern Tamara Braun, Adrian Wettstein und Andreas Rüdisüli für ihre engagierte und wertvolle Mitarbeit.

      Anmerkungen

      1 Schweizerisches Bundesarchiv (BAr), E27#12 615, Besuch der englisch-französischen Front durch Oberstkkdt Wildbolz, 1917, S. 25.

      2 Pöhlmann, Markus: «Schweiz», in: Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 826 f.

      3 Siehe zu Wildbolz Jaun, Rudolf: Das Schweizerische Generalstabskorps 1875–1945: Eine kollektiv-biographische Studie, Basel 1991 (= Der Schweizerische Generalstab, Bd. VIII), S. 396 f.

      4 Vgl. Olsansky, Michael M.: «Geborgte Kriegserfahrungen: Kriegsschauplatzmissionen schweizerischer Offiziere und die schweizerische Taktikentwicklung im Ersten Weltkrieg», in: Rudolf, Jaun et al. (Hg.): An der Front und hinter der Front. Der Erste Weltkrieg und seine Gefechtsfelder, Baden 2015 (= SERIE ARES 2), S. 114–127.

      5 Kurz, Hans Rudolf: Dokumente der Grenzbesetzung 1914–1918, Frauenfeld 1970, S. 52.

      6 Vgl. General Herzog, Hans: Bericht über die Grenzbesetzung im Januar und Februar 1871 vom 19. Juni 1871, Bern 1871. Faktisch hatte sich die Eidgenossenschaft seit dem Dreissigjährigen Krieg wiederholt durch die militärische Besetzung ihrer Grenzen vor kriegerischen Auseinandersetzungen in Mitteleuropa zu schützen versucht. Die eigentliche Begriffsgenese scheint bis heute aber nicht abschliessend untersucht, die Gleichstellung der Begriffe «Grenzbesetzung» und «Aktivdienst» im Historischen Lexikon der Schweiz scheint jedenfalls nicht ganz adäquat, siehe Historisches Lexikon der Schweiz, Bd. 5, Basel 2006, S. 675.

      7 «Militärorganisation der schweizerischen Eidgenossenschaft (vom 12. April 1907)», Schweizerisches Bundesblatt, 59. Jahrgang, Nr. 17 (1907), Art. 8.

      8 Vgl. dazu Jaun et al., An der Front und hinter der Front.

      9 Kreis, Georg: Insel der unsicheren Geborgenheit. Die Schweiz in den Kriegsjahren 1914–1918, Zürich 2014, S. 113–158.

      10