Die vertiefte Beschäftigung mit dem Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg schien uns auch angesichts der bisherigen Zentenariums-Veranstaltungen und der jüngst erschienenen Darstellungen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg ein Desiderat. Faktisch ist diesbezüglich in den nun zurückliegenden fünf Jahren nur wenig geschehen. Vergleichsweise am meisten Beachtung erfuhr das Thema in der lesenswerten Übersichtsdarstellung von Georg Kreis zur Schweiz im Ersten Weltkrieg, die sich im vierten Kapitel der militärischen Landesverteidigung widmet und den Forschungsstand zu den wichtigsten Themen (von den Allianzabsprachen über die bescheidenen Rüstungsschritte bis hin zu den Soldatenbünden) kurz und bündig resümiert.9 Die anderen Zentenariums-Publikationen zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg wickeln das Thema Militär in der Regel mit ein oder zwei Beiträgen ab. Der der gleichnamigen Wanderausstellung entsprungene Band «14/18» widmet sich mit einem Beitrag Rudolf Jauns der Disziplinierungsproblematik in der Schweizer Armee.10 Der Sammelband «Der vergessene Krieg» beleuchtet mit einem Beitrag von Juri Jaquemet und Adrian Wettstein die Fortifikationen Murten und Hauenstein sowie den Piz Umbrail als militärische Erinnerungsorte,11 zusätzlich blickt Rudolf Jaun mit einem süffisanten und bisher zu wenig beachteten Artikel auf die Skandalisierung der Person Ulrich Willes durch den Schriftsteller Niklaus Meienberg zurück.12 In regionalhistorischen Publikationen diskutieren ausserdem Hans-Rudolf Fuhrer die Generalswahl,13 Rudolf Jaun den Landesstreik14 und Marco Jorio die Ablösedienste der Truppenkörper des Kantons Zug.15 Ansonsten widmeten sich diese thematisch jeweils breit aufgestellten Publikationen dem Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg kaum, thematische Brückenschläge blieben weitgehend aus. Die Forschungsvorhaben des Sinergia-Projekts «Die Schweiz im Ersten Weltkrieg: Transnationale Perspektiven auf einen Kleinstaat im totalen Krieg» des Schweizerischen Nationalfonds beleuchteten schliesslich andere, vorwiegend nichtmilitärische Themengebiete, notabene mit der grossen Ausnahme von Sebastian Steiners Dissertationsprojekt zur schweizerischen Militärjustiz im Ersten Weltkrieg, das jedoch während der Erarbeitung dieses Buches noch der Publikation harrte und dessen Resultate bisher nur Insiderkreisen bekannt sind.16 Ebenfalls wie Steiner an einer Dissertation zu einem militärrechtlichen Sachverhalt arbeitend, war Lea Moliterni hingegen zu einem Beitrag für die Tagung «Am Rande des Sturms» bereit. Ihr Artikel im vorliegenden Tagungsband basiert entsprechend auf langjähriger Forschungsarbeit.17 Letztlich ist, wie heutzutage üblich, nicht gänzlich auszuschliessen, dass während des auslaufenden Zentenariums noch weitere Forschungsarbeiten zur Geschichte des Schweizer Militärs im Ersten Weltkrieg publiziert wurden, jedoch aufgrund ihrer kulturwissenschaftlichen Vertextung als solche nicht zu erkennen waren.
Militärisch, aussenpolitisch und kriegswirtschaftlich herausgefordert: die Schweizer Armeeführung um General Ulrich Wille im Ersten Weltkrieg (Bild: «Kritik», von Wilfried Schweizer, Sammlung MILAK).
Was den gesetzten, arrivierten Forschungsstand zum Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg betrifft, sind nach Rudolf Jaun «im Sinn eng gefasster Militärgeschichte» drei grundsätzliche Werke zu nennen: die in der Reihe der Geschichte des Schweizer Generalstabes erschienene, verlässliche Darstellung von Hans Rapold über die Vorbereitungen der Armeeleitung für den Krieg,18 dann die von Daniel Sprecher auf dessen aussenpolitische Ausrichtung fokussierte Biografie des Generalstabschefs, Theophil Sprecher von Bernegg,19 sowie eine Studie von Hans Rudolf Fuhrer,20 welche «die operativen Planungen und die Landesbefestigung in den Kontext der militärischen Gefährdungen der Schweiz stellt».21 Von Jaun selbst wissen wir dank seiner wegweisenden Habilitationsschrift «Preussen vor Augen» vom Kampf um die geistige Vorherrschaft im Schweizer Militärwesen der Vorkriegszeit zwischen Anhängern einer national-republikanisch orientierten «Staatsbürgerarmee» und den sich tendenziell durchsetzenden Befürwortern eines sich strikt an der Revolutionierung des modernen Gefechtsfeldes ausrichtenden, soldatisch disziplinierten Auszug-Heeres um den späteren General Ulrich Wille.22 Diese vier Darstellungen ergeben einen sehr soliden Basisforschungsstand und sind heute berechtigterweise aus der Geschichtsschreibung zum Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg nicht mehr wegzudenken. In Erinnerung zu rufen sind ausserdem die luzid geschriebenen, jeweils nicht nur die Periode des Ersten Weltkrieges abdeckenden wissenschaftlichen Biographien über Fritz Gertsch, Emil Sonderegger und Eugen Bircher,23 allesamt mehr oder weniger treue Gefährten beziehungsweise Schüler Ulrich Willes, und der sich dem Weltkriegsgeneral in vielschichtiger Weise widmende Sammelband von Hans Rudolf Fuhrer und Paul Meinrad Strässle.24 Allerdings droht dieser Forschungsstand allmählich, da hauptsächlich in den 1980er- und 1990er-Jahren erarbeitet, oberflächlich etwas anzustauben.
Die dem vorliegenden Band vorausgehende Tagung vom Herbst 2016 setzte sich deshalb die Zusammenführung der zum skizzierten Thema geschichtswissenschaftlich relevanten Detailforschung der letzten Jahre zum Ziel. Die Veranstaltung schaffte es dadurch, aktive, arrivierte Historiker mit ehemals zum Thema arbeitenden Kollegen sowie mit Nachwuchswissenschaftlern zusammenzubringen, die an der Tagung ihre Doktor- oder Masterarbeiten präsentierten. Die Tagung zeigte dem Publikum damit eine multiperspektivische Betrachtung des Schweizer Militärs zwischen 1914 und 1918. Nicht zuletzt wurden eingefahrene Vorstellungen, etwa zur Grenzbesetzung, sowie gängige Narrative, etwa zum Landesstreik, hinterfragt und diskutiert. Zusätzlich problematisierte die Tagung die zeitgenössische ausländische Sichtweise auf das Schweizer Militär sowie dessen Position im internationalen Kontext. Die zentralen Fragen des vorliegenden Tagungsbandes suchen entsprechend in sechs Hauptkapiteln dem eingangs beschriebenen Ansinnen nachzugehen und die während des Ersten Weltkrieges sprichwörtlich «am Rande des Sturms» stehende Schweizer Armee nicht primär aus einer schweizerischen Binnen- und Friedensperspektive zu betrachten, sondern vielmehr in den militärischen Kontext des Ersten Weltkrieges zu stellen. Dass dieser Ansatz nicht bei allen Beiträgen gleich stark zum Zug kommt, liegt einerseits in der Natur der jeweiligen Themen. Andererseits fällt doch auf, dass eine Mehrheit der Beiträge internationale Bezugspunkte aufweist, selbst wenn nicht alle Kapitel des Bandes über eine explizit internationale Stossrichtung verfügen.
Im ersten Kapitel Im internationalen Spannungsfeld eröffnen drei Autoren den Tagungsband mit ihren Betrachtungen zur politischen, militärischen und kriegswirtschaftlichen Lage der Schweiz im Ersten Weltkrieg. Sie fragen dabei nach den unterschiedlichen sicherheitspolitischen Parametern der damaligen Schweiz (wenn auch der Begriff der «Sicherheitspolitik» damals unbekannt war) und gehen mit ihren Ausführungen über die Erkenntnisse der bisherigen Forschung25 hinaus. Maartje Abbenhuis kritisiert und bestreitet auf der Basis ihrer politikhistorischen Forschung zum 19. Jahrhundert in freundlicher, aber bestimmter Weise die hierzulande weit verbreitete Vorstellung einer damals nennenswert exzeptionell gearteten schweizerischen Neutralität.26 Christophe Vuilleumier untersucht darauf in seinem Beitrag «Les stratégies