Eventuell vermag sich Nichtmilitärhistorikern die Sinnhaftigkeit des zweiten Kapitels Operationsplanung und Kampfführung nicht umgehend zu erschliessen. Wie Rudolf Jaun vor einigen Jahren festhielt, versah «die seit der Gründung der Eidgenossenschaft erstmalig mit einer Generalmobilmachung aufgebotene Bundesarmee zwischen 1914 und 1918 einen von den Kantonen wenig geliebten Neutralitätsschutzdienst, welcher für operationsgeschichtliche Studien wenig Reiz bietet».27 Gleichwohl geht es in diesem Kapitel um die zentrale Fragestellung, wie die Schweizer Armeeführung sowohl vor als auch während des Krieges das Land militärisch zu verteidigen gedachte. Einen Einstieg gibt Jaun gleich selbst, der sich in seinem Beitrag «Lagebeurteilungen und Operationsabsichten der Armeeführung 1914–1918» nicht nur den grundsätzlichen, strategisch-operativen Herausforderungen und Lösungsansätzen der Armeeführung um General Wille und Generalstabschef Sprecher widmet, sondern überblicksweise auch das einzige real bezogene Verteidigungsdispositiv der Armee mit Schwergewicht in der Nordwestschweiz skizziert. Hans Rudolf Fuhrer beschreibt danach in seinem Beitrag «Geheime Anschläge der Habsburger gegen die schweizerische Neutralität» den neutralitätspolitisch sensiblen Sachverhalt der «fremden Hilfe» beziehungsweise der militärischen Eventualabsprachen des Schweizer Generalstabschefs mit ausländischen «Berufskollegen» am österreichischen Beispiel. Wie zu seinen Vorkriegsabsprachen mit dem deutschen Generalstab sowie zu den Gesprächen mit Emissären des französischen Generalstabs in der zweiten Kriegshälfte kann zu Sprechers Sondierungen mit Vertretern des österreichischen Generalstabes festgehalten werden, dass ein militärisches Zusammengehen mit einer benachbarten Grossmacht stets eine kriegerische Verletzung der schweizerischen Neutralität voraussetzte und somit als Allianz mit dem Feind des Feindes geplant war. Dass nun diese Absprachen bei den ausländischen Gesprächspartnern Hoffnungen auf ein schnelles militärisches Engagement der Schweiz an ihrer Seite weckten, wird sowohl bei Fuhrer im Falle des österreichischen als auch im Artikel von Peter Mertens im Falle des deutschen Generalstabes im Kapitel Die ausländische Perspektive erkennbar. Theophil Sprecher selbst scheint vor 1914 für den Fall eines europäischen Krieges wiederum felsenfest mit einem italienischen Angriff auf die Schweiz gerechnet zu haben, ein Zusammengehen mit Österreich-Ungarn gegen Italien erschien ihm daher nur logisch und politisch im Sinn der Neutralitätshandhabung des 19. Jahrhunderts unbedenklich. Für einen solchen Fall der militärischen Neutralitätsverletzung von aussen favorisierte Sprecher zudem bis weit in die Kriegszeit hinein die Idee der strategischen Vorwärtsverteidigung auch jenseits der Schweizer Staatsgrenze. Juri Jaquemet skizziert danach in seinem Beitrag «Schützengräben auf der Sprachgrenze: Die Fortifikation Murten im Ersten Weltkrieg» die operative Hauptverteidigungslinie der Schweizer Armee an ihrer Westfront sowie die diesbezüglichen baulichen Verteidigungsvorbereitungen. Dass der Begriff der «Grenzbesetzung» zur Erfassung des Hauptverteidigungsdispositivs der Schweizer Armee nicht gänzlich geeignet ist, unterstreicht Jaquemets Aussage, wonach etwa zwei Drittel aller Schweizer Soldaten im Ersten Weltkrieg mindestens einen Ablösedienst in den weit hinter der Landesgrenze zu liegen kommenden Fortifikationen Murten oder Hauenstein leisteten. Weiter geht der Autor der Frage nach, inwiefern die auf der Sprachgrenze liegende Fortifikation Murten von innenpolitischer Bedeutung war. Schliesslich versucht sich der Herausgeber des vorliegenden Bandes im Beitrag «Vom Massensturm zur Sturmabteilung. Die Kriegführung des Ersten Weltkrieges und die Schweizer Armee – Simulakren und Gehversuche» an einer Fallstudie zur Modernisierung der schweizerischen Kampfführung gegen Ende des Krieges. Der Beitrag soll zeigen, wie die Schweizer Armee die Umgestaltung und Totalisierung der Kriegführung im Ersten Weltkrieg durchaus wahrnahm und zumindest sequenziell zu verarbeiten suchte. Im Fokus der Betrachtung liegt der Wissenstransfer aus ausgewählten Frontkommandierungen schweizerischer Offiziere der zweiten Kriegshälfte und die Erprobung neuer Angriffsverfahren durch einen Truppenversuch im solothurnischen Mariastein.
Das dritte Kapitel Militäralltag und Ablösungsdienste widmet sich der zentralen Frage, wie sich der eingangs problematisierte kriegslose Kriegszustand auf die Wehrdienstleistungen der Schweizer Soldaten auswirkte. Anfang August 1914 waren insgesamt 238 000 Mann unter Waffen getreten, die ersten Dienstwochen danach standen atmosphärisch ganz im Zeichen des eben erfolgten Kriegsausbruchs. Im Herbst 1914 wurden jedoch bereits beträchtliche Truppenkontingente entlassen; es ging darum, den Grenz- und Neutralitätsschutz mit einem minimalen Kräfteansatz sicherzustellen und die Wehrmänner ansonsten wieder der Wirtschaft des Landes zur Verfügung zu stellen. Damit ging die Schweizer Armee dazu über, ihre Truppenkörper und Verbände nach einem fortlaufend angepassten und auf die jeweilige Bedrohungslage ausgerichteten Rotationsmodus aufzubieten und wieder zu entlassen. So standen im Frühjahr 1915 beispielsweise nur noch knapp 60 000 Mann unter Waffen, im November 1916 waren es gar nur noch 38 000 Mann, im Frühjahr 1917 dafür wieder gut 100 000 Mann und im November 1918 betrug die aufgebotene Truppenstärke während des Landesstreiks etwa 110 000 Mann.28 Wie Marco Jorio kürzlich in Erinnerung rief, leisteten die Soldaten des Auszugs pro Jahr im Schnitt drei bis vier Monate, diejenigen der Landwehr noch etwa zwei Monate und jene des Landsturms nur etwa einen Monat Militärdienst.29 Insgesamt standen die Soldaten des Auszugs während des Krieges in mehreren sogenannten Ablösungsdiensten etwa 500 bis 600 Diensttage lang unter Waffen. Wie nun Jorio mit seinem Beitrag «Ringsum Kanonendonner braust. Die Zuger Soldaten am Rande des Sturms» und Dieter Wicki mit seinem Artikel «Alltagsgeschichte und Erinnerungskultur mit Blick auf Aargauer Soldaten» bildhaft herausarbeiten, trugen diese regelmässig wiederkehrenden Ablösungsdienste und die grundsätzlich generöse Beurlaubungspraxis massgeblich dazu bei, dass Mannschaften wie Offiziere den Aktivdienst von 1914 bis 1918 ganz wesentlich als eine Abfolge gewissermassen längerer Wiederholungskurse erlebten und damit den mindset der Instruktionsdienste der Friedenszeit unweigerlich auf die Wehrdienstleistungen der Kriegsjahre übertrugen. Die beiden Fallstudien heben deutlich hervor, dass der Krieg in der Regel für die Schweizer Soldaten doch sehr weit weg war. Entsprechend beklagten die Offiziere wiederholt die «Wiederholungskursmentalität» der Truppen, ohne jedoch selbst gegen diese Entwicklung immun gewesen zu sein. Die geistige und physische Abwesenheit der Kriegsrealitäten prägte augenscheinlich die Einstellung der Soldaten zum Wehrdienst, wenn diese zwischen «nützlichen Arbeiten» beispielsweise zum Festungsbau oder zur Unterstützung der Grenzwachtorgane und «unnützen Tätigkeiten» wie der Gefechts- und natürlich der Drillausbildung zu unterscheiden begannen. Hier können durchaus als zivilistisch zu interpretierende Dienstauffassungen beobachtet werden, die kaum darüber reflektierten, warum Drillausbildung für das militärische Funktionieren einer Truppe auf dem modernen Gefechtsfeld des Weltkrieges hätte notwendig sein können. Desweitern fällt auf, dass entgegen den althergebrachten Überlieferungen die Ablösungsdienste zwischen 1914 und 1918 nicht durchgehend von drastischer militärischer Härte geprägt waren. Wie Dieter Wicki ausführt, verfügte die Truppe normalerweise über ein anschauliches Mass an Freizeit, die eigentlichen Arbeitszeiten waren, wie im Ausbildungsbefehl des Generals von 1914 festgehalten, häufig auf die Morgenstunden begrenzt.30 Nicht nur Gewehrgriff und Taktschritt prägten entsprechend den Aktivdienst der Truppe, sondern eben auch Zerstreuung, Unterhaltungsprogramme, der Besuch der Gasthäuser und die anstehende Beurlaubung. Wie neuere Truppengeschichten zeigen, waren ausserdem gewisse Ablösungsdienste, wie zum Beispiel jene an der Südostgrenze im Kanton Graubünden, durchaus beliebt:
«Soldaten allüberall! In der hübschen Konditorei ‹Ma campagne› in Pontresina sitzen sie behaglich; denn dieses einstige Stelldichein der eleganten Welt ist eine Soldatenstube geworden. Tritt man neugierig ein, schallt es lustig: ‹Nüt für Ziviliste›. Die Strasse in Pontresina, die sonst gleichzeitig Korso und Markt und Vanity fair aller Rekordjäger in touristischen und weltlichen Dingen war, ist sehr beliebt: