Am Rande des Sturms: Das Schweizer Militär im Ersten Weltkrieg / En marche de la tempête : les forces armées suisse pendant la Première Guerre mondiale. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: ARES
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199457
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stehen auf den Vorplätzen der grossen Hotels Kanonen und Maschinengewehre. Dort, wo sonst das Verkehrsbureau war, ist jetzt das Platzkommando und ein von der Sonne braun gebratener Soldat, Bajonett am Gewehr, steht davor.»31

      Der militärische Bezugsrahmen der Schweizer Aktivdienstsoldaten scheint summa summarum nicht so sehr der Krieg als vielmehr der Instruktionsdienst beziehungsweise der Wiederholungskurs der Friedenszeit geblieben zu sein, entsprechend dominierten dessen klassische Problemlagen. Der moderne Krieg war insbesondere für die Mannschaft weit weg, und so nützte sich der überdies häufig mangelhaft gestaltete Ausbildungsbetrieb ab. Angesichts dieser Umstände und eingedenk der sich insgesamt eher im Rahmen haltenden Dienstbelastung der Wehrmänner sprachen Jorio und Wicki an der Tagung von 2016 von einer partiellen «Verzivilisierung» der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Diese These steht insbesondere Überlegungen einer angeblichen Militarisierung der Schweizer Gesellschaft im Ersten Weltkrieg entgegen. Sie wird zumindest indirekt auch durch die Aufstellung des «Vortragsbüros der Armee» gestützt, dem sich Yves-Alain Morel in seinem Beitrag «General Wille und der Wehrwille» widmet. Die Arbeiten des Büros von Gonzague de Reynold sollten die militärische und staatsbürgerliche Erziehung der Wehrmänner fördern und «Vaterlandsliebe hervorrufen», entsprechende Insuffizienzen scheinen zumindest in den Augen des Oberbefehlshabers die Errichtung des Büros notwendig gemacht zu haben.

      Im vierten Kapitel Meutereien und Militärjustiz tritt der Krieg als Kontextrahmen deutlich in den Hintergrund. Vier junge Kollegen erläutern auf der Basis dreier Qualifikationsarbeiten ihre Forschungsresultate zu meutereiartigen Vorfällen in der Schweizer Armee während des Aktivdienstes. Manuel Wolfensberger beleuchtet in seinem Beitrag «Meuterei und Aufruhr in der Schweizer Armee während des Ersten Weltkrieges: Die Militärjustiz zwischen Gesetz und General» die rechtlichen Grundsatzproblematiken von insgesamt 44 erfassbaren Fällen kollektiver Insubordination im Schweizer Militär während der Kriegsjahre, von denen notabene bis heute erst drei detaillierter aufgearbeitet sind.32 Das veraltete Militärstrafgesetz aus dem Jahre 1851 erschwerte die adäquate Ahndung dieser Fälle massiv. Der Schweizer Oberbefehlshaber, General Wille, sah in der Militärjustiz zudem primär ein Instrument zur militärischen Erziehung der Truppe beziehungsweise zur Kriegsertüchtigung derselben und griff wiederholt und massiv in die Arbeit der Militärgerichte ein. Zu diesem Schluss kommen auch Maurice Thiriet und Michel Scheidegger in ihrem Beitrag «General Ulrich Wille und die Militärjustiz am Beispiel der Meuterei der Feldbatterie 54». Der Beitrag zeigt fallartig auf, wie der General die Militärjustiz nicht so sehr als unabhängiges Rechtsorgan des militärischen Gesamtsystems, sondern eher als Instrument zur Disziplinierung des «Referendumsbürgers in Uniform» ansah und massiv in die Arbeit der Militärrichter intervenierte. Dazu sah sich Wille im Verlaufe des Krieges durch immer heftiger laufende Skandalisierungskampagnen der linken politischen Presse gegen die Armee veranlasst, die insbesondere das schweizerische Offizierskorps klassenkämpferisch als Unterdrückungsinstrument der bürgerlichen Klasse brandmarkte. Da Militärgerichtsprozesse zu vermuteten oder effektiv stattgefundenen Meutereien den Armeeskandalisierungen beispielsweise der linken Berner Tagwacht laufend neue Munition lieferten, griff Wille im Falle der Feldbatterie 54 in die Untersuchungsarbeit der Militärjustiz ein und entzog ihr faktisch den Fall, um selbigen auf disziplinarischem Wege armeeintern zu erledigen. Wille ging es dabei auch darum, die Autorität der Truppenkommandanten zu stärken, wobei er deren Verhalten durchaus differenziert und situationsabhängig zu beurteilen wusste.33 Dass sich der General in seiner Funktion gewissermassen als oberster Personalchef der Schweizer Armee betrachtete, macht auch der Beitrag von Lea Moliterni und Michel Scheidegger «Gnadenmotive und Gnadenpraxis innerhalb der Infanterie-Brigade 12» deutlich. Am Beispiel einer kleinen Meuterei auf dem Flugplatz Dübendorf im Frühjahr 1918 untersucht der Artikel Gnadengesuche militärgerichtlich verurteilter Wehrmänner an den Oberbefehlshaber, der in der Schweizer Armee allein im rechtlich bindenden Sinne Gnade sprechen konnte. Die Charakteristiken seiner Gnadenpraxis fördern dabei ziemlich neue Facetten der Person Ulrich Willes zu Tage und zeigen überraschend eine ihm eigene, humanistische Seite auf. Moliterni und Scheidegger sprechen in diesem Zusammenhang vom «sensiblen General», eine Charakterisierung, die die übliche wie simple Überlieferung von Ulrich Wille als bösem «Soldatenschinder» stark in Frage stellt.

      Innenpolitisch bis heute kontrovers: die Ordnungsdiensteinsätze der Armee in der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit (Bild: Georg Kreis, Schweizer Postkarten aus dem Ersten Weltkrieg, Baden 2013, S. 167).

      Das wohl einschneidendste und strittigste Ereignis der Schweizer Geschichte im Ersten Weltkrieg ist der Landesstreik vom 12. bis 14. November 1918. Es handelte sich dabei um einen beinahe landesweit durchgeführten Generalstreik der schweizerischen Gewerkschafts- und Arbeiterorganisationen. Während dreier Tage legten insbesondere in den meisten Schweizer Industriezentren gegen 250 000 Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte des öffentlichen Sektors die Arbeit nieder. Die Schweizer Armee hatte dabei nach entsprechenden Truppenaufgeboten durch den Bundesrat Ordnungsdienst zu leisten. Gesetzliche Grundlagen hierzu waren einmal mehr die Militärordnung von 1907, auf deren Basis die Landesregierung der Armee im aktiven Dienst die «Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern»34 anvertrauen konnte sowie die Instruktionen des Bundesrates an den General vom 4. August 1914, die diesbezüglich festhielten: «Im Innern hat die Armee wo nötig mitzuwirken, um Behörden und Beamte bei Ausübungen ihrer Befugnisse und Pflichten zu schützen und die allgemeine Rechtsordnung ungestört zu erhalten.»35 Schon vor dem Landesstreik war es in der Schweiz zu vorsorglichen Pikett-Stellungen und ab Herbst 1916 zu diversen Ordnungsdiensteinsätzen von aufgebotenen Truppenteilen gekommen, um teilweise gewaltumrahmte politische und soziale Strassenproteste in den Griff zu bekommen. Die Geschichte dieser Einsätze und insbesondere des Ordnungsdiensteinsatzes während des Landesstreiks werden im etwas längeren und eher für sich stehenden Kapitel Ordnungsdienst und Landesstreik dargestellt und untersucht. Auf eine weitere Kurzzusammenfassung der Ereignisse wird an dieser Stelle ausdrücklich verzichtet. Der Forschungsstand zum militärischen Aspekt des Themas ist äusserst solide.36 Im Rahmen einer ganzen Reihe von vor allem bei Professor Walter Schaufelberger geschriebenen Dissertationen wurden die Ordnungsdiensteinsätze während des Ersten Weltkrieges und während des Landesstreiks umfassend aufgearbeitet.37 Eine Debatte um die Interpretation des Landesstreiks hat in den vergangenen Jahren Rudolf Jaun, teilweise sekundiert von Tobias Straumann, anzustossen versucht. Demnach bedarf der Landesstreik «nicht nur aus militärgeschichtlicher Sicht dringend einer Neubearbeitung», wirken doch das in den 1950er- und 1960er-Jahren entstandene Standardwerk von Gautschi reichlich angejahrt und das Narrativ vom sich zuspitzenden Klassenkampf und der Entladung im Landesgeneralstreik sowie auch die These, die Armee habe den Generalstreik «niedergeschlagen, sehr handgestrickt und wenig zutreffend. Unbestritten ist [dagegen], dass General Ulrich Wille mit seiner Präventionsstrategie der Einschüchterung die massive Verlegung von Truppen nach Zürich und Bern herbeigeführt hat und damit Anlass zur Auslösung des Landesgeneralstreiks gegeben hat.»38 Jauns Anstoss soll im vorliegenden Band mit einem Neuabdruck seines Beitrages «Militärgewalt und das ‹revolutionäre› Gravitationszentrum Zürich (1917–1918)» aus den Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich von 2014 noch einmal Raum gegeben werden. Vorgängig beleuchtet Marco Knechtle in seinem auf seiner Masterarbeit basierenden Beitrag «Der Ordnungsdienst: Der zweite Hauptauftrag der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg» die im Zusammenhang mit der Oberstenaffäre angeordneten und zur affaire des trains führenden Pikett-Stellung der Armee vom Frühjahr 1916, den mehrere Wochen dauernden Ordnungsdiensteinsatz in La Chaux-de-Fonds im Frühsommer desselben Jahres sowie den zur Verhaftung des linken Politikaktivisten Jakob Herzog führenden Truppeneinsatz vom 27. Juni 1918 in Zürich. Die weiteren Beiträge dieses Kapitels schrieben mit Roman Rossfeld und Christian Koller zwei ausgewiesene Experten der Materie, deren eigenes Buch zum Thema etwa zeitgleich mit dem vorliegenden Band der SERIE ARES erscheinen wird.39 Rossfeld widmet sich in seinem Beitrag «Bolschewistischer Terror hat kein Schweizer Heimatrecht: Ordnungsdienst und Revolutionsrhetorik im schweizerischen Landesstreik vom November 1918» der Vorgeschichte des Landesstreiks, dem Antimilitarismus der politischen Linken, der Revolutionsangst des Bürgertums und des Militärs sowie der eskalationstreibenden Kampfrhetorik der beiden Hauptparteiungen. Zum Ausdruck