Bis zum Ende der Monarchie fügte sich auch die katholische Kirche immer weiter in die Struktur des jungen, preußisch geprägten Deutschen Reiches ein, besonders gefördert durch ein positiv geprägtes Verhältnis vieler Bischöfe zu Kaiser Wilhelm II. (1859-1941, reg. 1888-1918) und der Sorge vor einem Wachsen „revolutionärer Kräfte“.258 Auf der anderen Seite kam es zu einer Öffnung, besonders junger Geistlicher, für die sozialen Fragen der Zeit und damit einhergehend zu einem erheblichen Konfliktpotential zwischen Kirchenleitung und „Arbeiterkaplänen“.259 Auch wenn dies die kirchliche Einheit nicht grundsätzlich gefährdete, so zeigte sich darin eine weitere Spannung, die über das Miteinander von Kirche und Staat hinausreichte. Die Kirche zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit den Fragen und Problemen der Arbeiter konfrontiert und rückte damit in ein Konkurrenzverhältnis zur Sozialdemokratie.260 Auf der anderen Seite zeichnet sich in der Frömmigkeitspraxis dieser Zeit ein klar kirchlich geprägtes Glaubensverständnis, d.h., dass Symbole, Riten und traditionelle Frömmigkeitsformen, wie z.B. Wallfahrten, die Befolgung der kirchlichen Lehren, verbunden mit einer starken Anhänglichkeit an die Autorität des Papstes und der Bischöfe, zunehmend Bedeutung erlangten.261 Die ultramontane Ausrichtung vieler Katholiken knüpfte sich oft an diese Alleinstellungsmerkmale katholischen Bekenntnisses und Frömmigkeit. Die katholische Kirche bot Orientierung und Festigkeit, eben nicht nur als Institution, sondern durch den Glauben selbst, der durch die Marien- und Herz-Jesu-Frömmigkeit eine besondere Prägung erhielt und besonders im Kulturkampf als religiöser Gegenpunkt diente.262
Ausdruck fand die neue Frömmigkeit der Menschen in der Gründung von Kongregationen, Bruderschaften und Vereinen, die Zusammenhalt durch ein verbindendes Anliegen schufen und letztlich auch die Einbindung der Katholiken in ihre Kirche förderten. Die katholische Kirche war in neuer Weise Heimat und Bekenntnis geworden. Die Kirchentreue in Arbeiterkreisen hingegen war weit weniger gesichert und konnte auch durch die Gesellen- und Kolpingvereine nur teilweise gefördert werden.263
Kennzeichnend für die Geschichte des Katholizismus des 19. Jahrhunderts in Deutschland ist ein tiefgreifender Wandel auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen bis hinein in die soziale Frage. In diesem Kontext entwickelten sich auch die katholischen Gemeinden der Thüringer Kleinstaaten, deren Entwicklung sich indes durch weitere, besondere Rahmenbedingungen auszeichnete. Dies bezieht sich nicht nur auf die außergewöhnliche politische Situation, die die Kleinstaaterei mit sich brachte und sich je nach Einzelstaat unterschiedlich darstellte, sondern auch darin, dass es um die Neubegründung von katholischer Glaubenspraxis an sich ging. Katholizismus war für die Thüringer Kleinstaaten des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ein Novum.
Im Folgenden wird nun die Entwicklung des Katholizismus in den einzelnen Thüringer Kleinstaaten intensiver betrachtet.
21 Eine Beschreibung des frühmittelalterlichen einheimischen Adels ist schwierig: Grundlegend lässt sich sagen, dass sich in Thüringen eine Adelsschicht eine gewisse Unabhängigkeit vor den Franken bewahren konnte, aber selbst zu schwach war, um eine eigene Führungsrolle einzunehmen. Es blieb bei einem Gewirr von Edlen mit Titeln wie „dux“, „comes“ oder „marchio“. Vgl. dazu: H. Wittman, Im Schatten der Landgrafen. Studien zur adligen Herrschaftsbildung im hochmittelalterlichen Thüringen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen, kleine Reihe 17), Köln-Weimar-Wien 2008, S. 478-486.
22 Vgl. H. Patze, Land, Volk und Geschichte, in: H. Patze/W. Schlesinger (Hg.), Geschichte Thüringens, Bd. 6: Kunstgeschichte und Numismatik der Neuzeit (Mitteldeutsche Forschungen 48/VI), Köln 1979, S. 217
23 Vgl. dazu weiterführend: S. Weigelt, Ludwig IV., der Heilige, Landgraf von Thüringen und Pfalzgraf von Sachsen, in: D. Ignasiak (Hg.), Herrscher und Mäzene. Thüringer Fürsten von Hermenefred bis Georg II, Rudolstadt-Jena 1994, S. 77-90. Die Angabe der Lebensdaten der Thüringer Landgrafen, Herzöge und Fürsten beziehen sich auf: D. Ignasiak, Regenten-Tafeln Thüringischer Fürstenhäuser. Mit einer Einführung in die Geschichte der Dynastien in Thüringen, Jena 1996.
24 Vgl. Ignasiak, Regenten-Tafeln, S. 27.
25 Vgl. S. Tebruck, Pacem confirmare – iusticiam exhibere – per amiciciam concordare. Fürstliche Herrschaft und politische Integration: Heinrich der Erlauchte, Thüringen und der Weißenfelser Vertrag von 1249, in: J. Rogge/U. Schirmer (Hg.), Hochadlige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200-1600). Formen – Legitimation – Repräsentation (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 23) Stuttgart 2003, S. 243-303, hier S. 243. Verwiesen sei auch auf: H. Kunde/S. Tebruck/H. Wittmann, Der Weißenfelser Vertrag von 1249. Die Landgrafschaft Thüringen am Beginn des Spätmittelalters (Thüringen gestern & heute 8), Erfurt 2000; S. Raßloff, Geschichte Thüringens, München 2010, S. 30.
26 Vgl. B. Streich, Die Anfänge der Residenzbildung in Thüringen. Dynastische Verbindungen, Teilungen, Haupt- und Nebenresidenzen, in: K. Scheurmann/J. Frank (Hg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen, Essays, Jena 2004, S. 27-42, hier S. 28. Zur sich ausbildenden Hegemonialmacht vgl. D. Stievermann, Die Wettiner als Hegemonen im mitteldeutschen Raum (um 1500), in: J. Rogge/U. Schirmer (Hg.), Hochadlige Herrschaft im mitteldeutschen Raum (1200-1600). Formen – Legitimation – Repräsentation (Quellen und Forschungen zur sächsischen Geschichte 23), Stuttgart 2003, S. 379-393.
27 „bißher in bruderlicher loblichmir lieb und eynigkeit Ungetilit bey ainandir sitzende pliben [gemeinsam regiert haben]; Wir nur auß gutir bewegnus und redlichen ursachen [von] uns beiden, allen Unsern Landesn luten und undirthanen zcu gut Merung unnde bleiblicher enthaldung [Erhaltung] bruderlicher trew und fruntschafft allinthalbin ufs bequemest und nuzlichst betrachtet, Im Namen gotis retig worden sein, Uns Mit einandir auß gemalten, unser beider uffgeerbten und angefallen fürstentumen und landen, und anderm [das, wir] an uns bracht, doch hirinn das herzcogtum und kurfurstentum zu Sachssen Uns herzcogen Ernst als kurfürsten und unsern Nachvolgenden erben, die nach und kurfursten sein werden allein, zcustehinde, ußgeslossen, uffs bruderlichst, fruntlichst und allergleichst erblich zcu teilen, Und uns darauff bruderlich und beflißlich mit einandir undirrett, das solch Erblich teiilung und vertragen [Vertrag], [von] uns als dem Eldsten zu machen [ist], Und unserm lieben bruder als dem Jungsten nach gemachter und geoffinter [dargelegter] teilung solch frist […] unsers lieben bruders und unser Erbliche teylung zcu machen beladen angenomen.“ Hauptteilungsvergleich zwischen Ernst und Albrecht von Sachsen 1485, hier zit. nach: John, Quellen zur Geschichte Thüringens. Von der Reformation bis 1918, Erfurt 1995, S 37f. Vgl. dazu: K. Blaschke, Die Leipziger Teilung 1485 und die Wittenberger Kapitulation 1547 als grundlegende Ereignisse mitteldeutscher Territorialgeschichte, in: J. John, Kleinstaaten und Kultur in Thüringen vom 16. bis 20. Jahrhundert, Weimar-Köln-Wien 1994, S. 1-7, hier S. 3-5; V. Graupner, Die Leipziger Teilung von 1485, in: H. Hoffmeister/V. Wahl (Hg.), Die Wettiner in Thüringen. Geschichte und Kultur in Deutschlands Mitte (Schriften des Thüringer Hauptstaatsarchiv 2), Arnstadt-Weimar 1999, S. 87-94 und Raßloff, Geschichte Thüringens, S. 39.
28 Vgl. Raßloff, Geschichte Thüringens, S. 31f.
29 Die Kurgebiete lagen auf dem Gebiet des heutigen östlichen Sachsen-Anhalts und des nordwestlichen Sachsens um Wittenberg und Torgau und zogen sich in einem schmalen Band bis in die Gegend von Zwickau. Streitigkeiten und kämpferische Auseinandersetzungen gab es zwischen den verschiedenen Linien, die in sich auch weiter aufgeteilt wurden, immer wieder. Die einzelnen Herrschaften konzentrierten sich zunehmend auf den Ausbau des linieneigenen Herrschaftsgebietes und Einflusses; vgl. F. Boblenz, Albertiner und Ernestiner, in: H. Hoffmeister/V. Wahl (Hg.), Die Wettiner in Thüringen. Geschichte und Kultur in Deutschlands Mitte, Arnstadt-Weimar 1999, S. 95-100, hier S. 95.
30 Dem Vetter des Kurfürsten Johann Friedrichs (1503-1554), Moritz von Sachsen (1521-1553), selbst evangelisch, aus der albertinischen Linie der Wettiner, war als Verbündetem des katholischen Kaisers Karl V. die Vollstreckung der am 19. Juli 1546 angeordneten Reichsacht gegen Johann Friedrich aufgetragen worden. Vgl. Stievermann, Die Wettiner als Hegemonen,