2.1.2 Einordnung der charismatischen Erneuerungsbewegung
Die erste spirituelle Komponente, die näher vorgestellt werden soll, ist die charismatische Frömmigkeit. Diese Spiritualitätsform ist besonders prägend.134 Die charismatische Glaubenspraxis kann man als Grundströmung bezeichnen, die die anderen Traditionen einfärbt und ihnen ihren Platz im Gesamtgefüge zuweist. Der CCN-Autor Timothy Watson führt aus, die Kommunität sei organisch aus der Erneuerungsbewegung erwachsen. Das Verständnis der charismatischen Glaubenspraxis ist für ihn der Zugang zur CCN-Spiritualität überhaupt. „Um Chemin Neuf zu verstehen, ist es notwendig, ihren Ursprung in der charismatischen Erneuerung […] zu verstehen.“135
Die charismatische Erneuerungsbewegung, wie sie heute in der katholischen Kirche anzutreffen ist, entstammt der nordamerikanischen Pfingstbewegung. Ihre Charakteristika zu kennen hilft, die charismatische Frömmigkeit zu verstehen, wie sie bei CCN gelebt wird.
Der Ursprung der neuzeitlichen pfingstlichen Erneuerungsbewegung wird von der Mehrheit der Autoren im Jahr 1906 in der Stadt Los Angeles lokalisiert.136 Der Prediger W. J. Seymour hatte in seiner Gemeinde außergewöhnliche Phänomene wie die Geisttaufe und die Zungenrede, Gebetsheilungen und Prophetie erweckt.137 Der Geist dieser Bewegung sprang im Jahr 1967 auf die katholische Kirche in den USA über. Bei einem Gebetswochenende mit protestantischen Pfingstlern an der Duquesne Universität in Pittsburgh, Pennsylvania, ließen sich auch katholische Studenten und Professoren von den charismatischen Phänomenen anstecken.138 Diese Glaubenspraxis breitete sich in den darauf folgenden Jahren, ausgehend von den USA, in der katholischen Kirche aus.
Die Hierarchie der katholischen Kirche bemüht sich, die charismatische Erneuerung zu integrieren. So wurde im Ursprungsland der Bewegung, in den Vereinigten Staaten, in Ann Arbor, 1972 der „Internationale Rat der charismatischen Erneuerung in der katholischen Kirche“ gegründet, dessen Büro seit 1981 seinen Sitz in Rom hat. Im Jahr 1973 fand die erste internationale Konferenz der charismatischen Erneuerung in Grottaferrata bei Rom statt. 120 Delegierte aus 34 Ländern nahmen daran teil. Die Internationalität der Konferenz kann als Hinweis darauf gesehen werden, wie weit sich die Erneuerungsbewegung in der katholischen Kirche zu diesem Zeitpunkt ausgebreitet hatte. Papst Paul VI. empfing einen Teil der Delegierten in Audienz, was als Aufwertung der Konferenz verstanden wurde.139 In Deutschland setzte die DBK auf Betreiben von Bischof Heinrich Tenhumberg zwei Kommissionen ein, die sich mit der charismatischen Erneuerung befassten.140 Diese Beispiele stehen stell- vertretend für eine ganze Reihe von Kontaktaufnahmen und Eingliederungsbemühungen seitens nationaler Bischofskonferenzen und des Heiligen Stuhls. Beobachter dieser Entwicklung deuten dieses Aufeinanderzugehen als wohlwollende Aufnahme der charismatischen Bewegung in der katholischen Kirche und als kirchenamtliche Ermutigung zu ihrer spezifischen Frömmigkeit.141 Auf dem dritten Internationalen Charismatischen Kongress äußerte sich Papst Paul VI. in Rom wohlwollend über die charismatische Erneuerung und bezeichnete sie als „Chance für die Kirche und die Welt“.142 Bei dieser Begegnung mit Papst Paul VI. im Jahr 1975 im Petersdom war auch Laurent Fabre zugegen, der diese Worte im Rückblick als eine große Ermutigung für sich persönlich bezeichnete.143
2.1.3 Zielsetzung der charismatischen Erneuerung
Die charismatische Erneuerungsbewegung vertritt nach Ansicht von Theologen kein eigenständiges Lehrgebäude. Sie zeichnet sich weniger durch theologische Neuentwürfe aus, sondern erstrebt in erster Linie eine Verlebendigung des Glaubens und die Wiederentdeckung der neutestamentlichen Charismen für die Gemeinde.144 Die charismatische Bewegung verfügt ebenfalls über keine eigenständige Ekklesiologie. Sie lehnt sich an die traditionellen Kirchen- und Gemeindetypen an, die sie in der jeweiligen Konfession, in der sie heimisch wird, vorfindet.145 Die charismatische Bewegung sucht eine „intensivere, festlichere, emotionalere und ganzheitlichere“146 Form des Glaubenslebens. In ihr schwingt darüber hinaus ein zeitkritisches Moment mit, insofern sie sich gegen bestimmte Formen eines übertriebenen rational-technischen Weltbildes wendet.147 Ein ganzheitliches Konzept von Welt und Mensch wird dem entgegengesetzt: „not the book, but the parable; not thesis, but the testimony; not the dissertation, but the dance; not concepts, but banquets; […] not definitions, but descriptions; not arguments, but transformed lives.“148
Charismatische Phänomene wie die Zungenrede oder ekstatisches Beten erscheinen vielen Nichteingeweihten fremd. Sie gelten als der Inbegriff des Außergewöhnlichen und Nichtalltäglichen.149 Das Unverständnis oder die Ablehnung bei nicht wenigen Zeitgenossen ist daher nicht verwunderlich. Ein Gedanke des Theologen Karl Rahner hilft, die charismatischen Phänomene theologisch besser einzuordnen. Rahner zählt charismatische Phänomene zu den mystischen Erfahrungen. Mystisches Erleben ist in der Stille und Versenkung möglich. Auf der anderen Seite des Spektrums manifestiert sich Mystik in Ekstase, Überschwang und Enthusiasmus. Rahner bevorzugt das letzte Wort und spricht vom enthusiastischen Erleben. Rahner räumt ein, dass charismatische Phänomene tatsächlich Orte der Transzendenzerfahrung sein können. Er hält sie für echte Gnaden- und Glaubenserfahrungen und spricht von einer „Alltagsgestalt der Mystik.“150 Karl Rahner macht aber ebenso darauf aufmerksam, dass, wenn der Geist Gottes auf die naturalen Möglichkeiten des Menschen trifft, dieser in der menschlichen Psyche verzerrt, gebrochen und gespiegelt wird. Deshalb bedürfen charismatische Erfahrungen der kritischen Prüfung. Sie sind für psychologische, tiefenpsychologische und para-psychologische Deutungen offen.151
2.1.4 Verschiedene Facetten der charismatischen Glaubenspraxis
2.1.4.1 Die Taufe im Heiligen Geist
Die Taufe im Heiligen Geist, die von der Wassertaufe zu unterscheiden ist, gilt allgemein als eine Art Initiation in die charismatische Glaubenspraxis. Auch für den Gründer der Gemeinschaft, Laurent Fabre, stellte sie das Durchbruchsereignis dar, das seinem Leben eine neue Richtung gab. Fabre beschreibt dieses Erlebnis, das sich bei dem Gebetswochenende zugetragen hat, folgendermaßen:
„Ich kann diesen Augenblick kaum beschreiben, so einfach und so wichtig war er. Sagen wir, dass ich zuerst die ureigene Überzeugung von meinen Sünden bekam und dann die Anwesenheit der Liebe des Herrn. Ich weinte, nicht wie jemand, der nervlich zusammenbricht. Eher wie jemand, der vor Freude weint, wie ein eisernes Herz, das ein großzügiges Herz wird.“152
Jaques Monfort, ein Priester aus der CCN-Gründergeneration berichtet, seine Taufe im Heiligen Geist habe sich während einer Exerzitienwoche ereignet. Zu der Zeit befand er sich nach eigener Darstellung in einer Orientierungskrise.153 Seine Taufe im Heiligen Geist schildert er als ein Loslassen-Können, als ein befreiendes Absehen von seinen eigenen Plänen. Im Gebet verspürt er den Wunsch, sein Leben Gott zu übergeben. Nachdem ihm dieser Schritt gelungen war, habe er eine große Freude verspürt. Die Taufe im Heiligen Geist stellt für ihn die Hingabe des Lebens an Gott dar.154
In etlichen CCN-Dokumenten wird die Terminologie von der Taufe im Heiligen Geist gleichgesetzt mit der charismatischen Spiritualität selbst. Die Konstitutionen gehen davon aus, dass jedes CCN-Mitglied ein solches charismatisches Durchbruchserlebnis erfahren hat.
„Besonders hat jeder von uns die grundlegende Erfahrung der ‚Taufe im Heiligen Geist‘ (Geistausgießung) gemacht, die ein persönlicher Schritt in der Erneuerung der Gnade der Taufe ist: Totale Hingabe unseres Lebens an Christus, neue Ausgießung des Geistes und neue Entsendung vom Vater, tiefe persönliche