In der Fremde glauben. Torsten W. Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Torsten W. Müller
Издательство: Bookwire
Серия: Erfurter Theologische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429061883
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„Neubürger“ für die katholische Diaspora-Kirche mitbrachten, zeichnete sich sehr schnell eine zusätzliche Belastungsprobe ab: die hohe Fluktuation der Flüchtlinge. Der Abwanderungstrend der Vertriebenen spielte von Anfang an – ab 1948 dann in größeren Ausmaßen – eine bedeutende Rolle für die sich bildenden katholischen Gemeinden Thüringens. Die Zahl der Vertriebenen in der SBZ hatte Ende 1947 ihren Höhepunkt von 4,4 Millionen erreicht. Trotz der Weiterwanderung vieler in die Westzonen konnte diese Zahl bis 1949 beibehalten werden, da starke Neuzugänge von „Umsiedlern“ zu verzeichnen gewesen waren. In den 1950er Jahren nahm die Anzahl der Vertriebenen in der SBZ/DDR deutlich ab; die Westwanderung bzw. „Republikflucht“ setzte sich bis zum Mauerbau 1961 kontinuierlich fort.75 Das Problem der „Wanderung“ bzw. die „Frage des Bleibens“ sollte sich für die katholischen Gemeinden bis 1989 als virulent erweisen.76 Einige Beispiele aus dem ersten Nachkriegs-Dezennium der katholischen Kirche Thüringens sollen das illustrieren:

      Der Seelsorgebezirk Großbrembach war 1947 nach dem Zuzug katholischer Heimatvertriebener errichtet worden. Zwei Jahre später war der Höchstwert der Gläubigen erreicht; man zählte 1.200 Katholiken in elf Orten. Bis 1953 wanderten ca. 300 Katholiken ab.77 Da dieser Trend anhielt, war bald kein eigener Seelsorger in Großbrembach mehr nötig, sodass der Geistliche bereits 1957 nach Guthmannshausen verzog und die Seelsorgestelle von dort aus mit versorgte.78

      Ein ähnliches Bild ergab die Situation in Vieselbach. Durch Binnenmigration der Vertriebenen in die Städte und durch Abwanderung in die Bundesrepublik verlor diese 1946 gegründete Seelsorgestelle zahlreiche Gemeindemitglieder. 1948 wurden 2.221 Katholiken gezählt, 1953 waren es nur noch 1.360 und 1957 wurde schließlich die Tausendergrenze unterschritten. Allein in den Jahren von 1951 bis 1957 verringerte sich die Seelenzahl um 45 %.79

      Die Abwanderung der Katholiken war für die Priester, die Gemeinden errichten wollten, besonders enttäuschend. Vor allem auch dann, wenn ein Kirchenneubau geplant war. In Gispersleben beispielsweise begann der Ortsgeistliche Heinrich Kraut80 1954 mit dem Bau eines eigenen Gotteshauses für die noch recht „junge“ Gemeinde. Er schrieb in die Kirchenchronik:

       „Zum großen Leidwesen des Seelsorgers wanderten viele, besonders solche, die am meisten beim Bau u. Schachten mitgeholfen hatten, aus. Als ich nach einem kurzen Urlaub bei meiner Mutter in Somborn (Freigericht) bei Hanau am Main nach Gispersleben zurück kam, waren 160 verschwunden. Da sagte ich mir: Wozu die ganze Mühe?“81

      Die Gründe für eine Weiterwanderung sind verschieden. Sicherlich spielten der Lastenausgleich der Bundesrepublik und die staatlichen Repressionen in der SBZ/DDR eine Rolle. Die „kurzfristige und ephemere Umsiedlerpolitik“82 der SBZ/DDR beförderte zweifellos durch eine verordnete Assimilation zusammen mit dem verordneten Heimatverzicht in weiten Teilen diese Westabwanderung.

       Exkurs: „Umsiedlerpolitik“ im Arbeiter- und Bauernstaat

      Die „Umsiedlerpolitik“ in der SBZ/DDR folgte zwei Maßgaben. Zum einen der Deklarierung der Unmöglichkeit der Rückkehr der Vertriebenen in die alte Heimat – Menschen auf „gepackten Koffern“ mit attentistischer Grundhaltung konnte man beim Aufbau des Sozialismus nicht gebrauchen – zum anderen die Gleichberechtigung mit sozialpolitischen Integrationshilfen in der neuen Heimat.83 Diese von der SMAD und der KPD/SED getragene „Umsiedlerpolitik“ war bestimmt vom Endziel der rückhaltlosen Assimilation der Vertriebenen in die Ankunftsgesellschaft.84

      Bereits der Blick auf die amtliche Sprachpolitik in der Einleitung dieser Untersuchung offenbart die Dynamik dieses Eingliederungsprozesses der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in der SBZ/DDR nach dem Zweiten Weltkrieg. So begann bereits 1948 das schrittweise eingeleitete Ende der spezifischen „Umsiedlerpolitik“. In jenem Jahr wurden auf Druck der Sowjets die Umsiedler-Sonderverwaltungen85 aufgelöst und in die Arbeits- und Innenverwaltung überführt.86 Einer kurzen Phase materieller Förderung mit dem Höhepunkt des DDR-Umsiedlergesetzes 1950 – einen Lastenausgleich gab es nicht, nur geringe Einmalzahlungen zur Anschaffung von Mobiliar und Hausrat87 – folgte schließlich Ende 1952/Anfang 1953 die offizielle Erklärung der DDR-Regierung, dass die Integration der „ehemaligen Umsiedler“ weitgehend abgeschlossen sei. Das Vertriebenenproblem wurde in der DDR-Öffentlichkeit und in den staatlich kontrollierten Medien nicht mehr thematisiert88 und dem gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozess untergeordnet.89 Ein SED-Funktionär hielt diesbezüglich zusammenfassend fest: „Es gibt bei uns keine Umsiedlerfrage. Die neuen Bürger haben ihre neue Heimat gefunden. Die täglichen Probleme des Aufbaus, ihre volle Einschaltung in die politischen Ereignisse lassen Sentimentalitäten nicht zu. Solch ein chauvinistischer Revanchebegriff wie ‚heimatvertrieben’ existiert nicht im Wortschatz eines Bürgers der Deutschen Demokratischen Republik.“90

      Ab 1952/1953 wurden die Vertriebenen und ihre Aktivitäten als Unruhepotential in der Gesellschaft (innenpolitisch) und als Störfaktor in den ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen der DDR und Polen sowie zwischen der DDR und der Tschechoslowakei definiert (außenpolitisch). Damit begann die „negative Vertriebenenpolitik“91 des SED-Regimes, die v.a. in zwei Bereichen sichtbar wurde: Zum einen in der Frage der Formierung landsmannschaftlicher Treffen bzw. Selbstorganisationsversuchen der „Umsiedler“92 und zum zweiten in der Haltung der Vertriebenen bzw. der Bevölkerung insgesamt zur Oder-Neiße-Grenze.93

      Besondere Vertriebenenvereinigungen würden nämlich aus SED-Sicht automatisch zum Aufbau von „Revanchistenorganisationen“94 führen, die die Oder-Neiße-Grenze und damit den Weltfrieden95 infrage stellen.96 Landsmannschaftliche Gruppierungen, Tendenzen zur Selbstorganisation von Vertriebenen und jede kulturelle Sonderidentität wurden daher von der SED verboten und vehement verfolgt. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung wurde tabuisiert.97

      Darum nahm die Relevanz innerkirchlicher Vertriebenenorganisationen erheblich zu, und auch die Kirchen gerieten mit ihrer Tätigkeit unter verstärkte polizeistaatliche Observation des SED-Staates.98 Der Katholizismus war – zusammen mit dem Protestantismus – die einzige widerwillig geduldete weltanschauliche Alternative zum Staatssozialismus.99

       2.3 Neue Funktionsträger

      Die Vertriebenen waren zum großen Teil religiös sozialisiert und suchten, in der Kirche ein Stück der verlorenen Heimat zu finden. Nur langsam konnte aber eine gewisse Planung und Ordnung in die Pastoral Einzug halten. Das Vorhandensein der während des Krieges evakuierten katholischen Priester aus den westlichen (Erz-)Diözesen war eine erste Grundlage dafür. In zahlreichen Dörfern befanden sich Geistliche, die rheinische Katholiken betreuten und sich schließlich auch der Heimatvertriebenen aus dem Osten annahmen. Der bekannteste und wohl am nachhaltigsten wirkende Evakuierten-Seelsorger in Thüringen dürfte der Kölner Diözesanpriester Joseph Plettenberg gewesen sein100, der im Juni 1944 zum Obmann der Kölner Seelsorger im Bistum Fulda ernannt wurde und mit Verhandlungsgeschick und pastoraler Umsicht die „Abgewanderten-Seelsorge“ für Thüringen leitete.101 In der Nachkriegszeit übte er wichtige Funktionen in der Vertriebenenseelsorge Thüringens aus.

      Das Josef Plettenberg verliehene Amt des Obmannes erfuhr nach der Ankunft von Heimatvertriebenen in Mitteldeutschland einen ständigen Ausbau, was auch der Erfurter Dompropst Freusberg begrüßte. Zunächst wurde Plettenberg von seinen Aufgaben als Seelsorger in Großrudestedt entbunden102 und schließlich zum Bischöflichen Kommissar für die Abgewandertenseelsorge in Thüringen ernannt.103 Dieses Amt erfuhr alsbald einen enormen Bedeutungszuwachs, da Katholiken in Scharen nach Mitteldeutschland einströmten und die Pastoral bzw. der Einsatz der Priester einer zentralen Koordinierungsstelle bedurften.

      Plettenberg wurde Bischöflicher Kommissarius104 in der schwierigen Zeit als die Kommunikation mit dem Fuldaer bzw. Kölner Ordinariat weitgehend unterbunden war und er notgedrungen Entscheidungen ohne Absprache mit