Das Ende des Zweiten Weltkrieges war in Thüringen bereits im April 1945 erfolgt. Erste alliierte Besatzungsmacht wurden die Amerikaner. Im Juli 1945 besetzte die Rote Armee gemäß den Vereinbarungen von Jalta Thüringen.43 Im Osten Europas kam es seit Kriegsende zu Massenvertreibungen von Millionen Deutschen, zunächst zu den so genannten „wilden“ Vertreibungen durch polnische und tschechoslowakische Machthaber, die noch vor Beginn der Grenzverhandlungen Fakten schaffen wollten. Am Ende stand schließlich die vertraglich festgelegte Vertreibung nach dem Potsdamer Abkommen vom Juli 1945.44
Dieser mehrphasige Prozess der Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung brachte bis zur Jahreswende 1945/1946 389.535 Vertriebene nach Thüringen.45 In den Wintermonaten 1945/1946 stockte der Massentransfer, wurde aber im Frühjahr 1946 wieder aufgenommen. Diesmal gelangten vor allem Sudetendeutsche nach Thüringen, vom 10. Juli bis 15. Oktober 1946 allein 240.000.46 Die Aussiedlung der Deutschen aus den Ostprovinzen setzte sich im strengen Winter 1946/1947 und im gesamten Jahr 1947 fort. 1948 kam die Aufnahme von Heimatvertriebenen zu einem gewissen Abschluss. Die Statistiken vom Januar 1949 weisen für Thüringen 685.913 Vertriebene auf47, ein Drittel von ihnen stammte aus dem Sudetenland und bildete damit die größte landsmannschaftliche Gruppierung im Aufnahmegebiet.48 Ein Teil der „Umsiedler“ wanderte kurz nach der Aufnahme weiter in die westlichen Besatzungszonen, der Großteil verblieb jedoch in Thüringen.49
Die neu eingesetzten Landesverwaltungen standen den wachsenden Aufgaben recht hilflos gegenüber, wobei das Problem der Aufnahme von hunderttausenden Vertriebenen zweifellos das größte, aber nicht das einzige Kriegsfolgeproblem bedeutete.50 Die akutesten Probleme in Bezug auf die Heimatvertriebenen waren die Unterbringung der Zugezogenen51 – hier stieß man auf erheblichen Widerstand bei der einheimischen Bevölkerung – , ihre Eingliederung in den Arbeitsprozess52 sowie die sozialfürsorgerischen und unterstützenden Hilfsmaßnahmen für die mittellosen Vertriebenen.53
Die meisten der Heimatvertriebenen waren im ersten Nachkriegsjahr in kleinen Landgemeinden untergekommen, da zunächst eine systematische Lenkung der Massentransfers und der Ansiedlung in der SBZ fehlte. In den Städten stand zudem kaum Wohnraum zur Verfügung, da sie teilweise zerstört waren. Bereits 1946 machte sich eine wachsende Binnenwanderung in die Städte bemerkbar.54 Gleichzeitig setzte aber eine starke Abwanderung der Vertriebenen in die Westzonen ein, sodass die Zahl der Vertriebenen in der SBZ deutlich abnahm. Schätzungen zufolge verließen etwa 900.000 bis eine Million Heimatvertriebene die SBZ/DDR.55
Zunächst aber blieben die Neuankömmlinge in Thüringen und waren so in materieller Hinsicht unerwünschte Konkurrenten um knapp gewordene Ressourcen, in soziokultureller Hinsicht vielfach Fremde: Städter trafen auf Dorfbewohner, enteignete Besitzbürger auf ungeschmälert Besitzende, Schlesier auf Eichsfelder oder Thüringer, Katholiken auf Protestanten. „Die Folgen waren materielle Verteilungskonflikte und wechselseitige soziokulturelle Ausgrenzungsstrategien.“56
Die Ankunft der Vertriebenen brachte für die katholische Kirche im Ostteil des Bistums Fulda fundamentale Veränderungen mit sich. Die konfessionelle und konfessionskulturelle Landkarte Thüringens wurde grundlegend geändert wie seit der Reformation und dem Dreißigjährigen Krieg nicht mehr. Die durch Glaubensspaltung und Konfessionalisierung entstandenen „mental maps“, „geistige Landkarten“, markierten einst „eine der stabilsten Tatsachen der deutschen Geschichte in der Neuzeit.“57 Mit den Bevölkerungsverschiebungen in Folge des Zweiten Weltkrieges waren diese zerschlagen worden.58
Auf dem Territorium des protestantisch geprägten Ostteils der Diözese Fulda war die katholische Kirche seit der Reformation immer eine Diasporakirche – eine Kirche in der Zerstreuung – gewesen.59 Der Zustrom der Heimatvertriebenen ließ den Anteil der Katholiken hier mehr als verdreifachen.60 In das Gebiet des 1946 errichteten Generalvikariates Erfurt gelangten durch Flucht und Vertreibung etwa 311.000 Katholiken.61 Die wenigen bestehenden katholischen Gemeinden konnten anfangs keine materielle und personelle Infrastruktur bereitstellen. Zu unerwartet war das Hereinströmen der Heimatvertriebenen gewesen, der Massenansturm überforderte kirchliche und staatliche Verantwortliche. Einige numerische Beispiele können dies verdeutlichen.
In Gotha bestand seit 1851 eine weit ausgedehnte Missionspfarrei, zu der mehr als 100 Ortschaften gehörten. Bei Kriegsausbruch lebten auf diesem Gebiet etwa 3.000 Katholiken. Die Zahl erhöhte sich sprunghaft, als Heimatvertriebene aus Ostmitteleuropa ankamen, auf rund 60.000.62
Die Stadt Weimar war Sitz einer eigenen katholischen Pfarrei und Sitz eines Dechanten. Die Seelenzahl der Stadt selbst stieg von 3.500 Seelen auf 9.000 an. Im Außenbezirk der Pfarrei lebte aber 1947/1948 der Großteil der katholischen Heimatvertriebenen, sodass 13 Seelsorgestellen63 mit eigenen Geistlichen neu errichtet wurden, zu denen jeweils eine große Anzahl von Ortschaften gehörte.64
Im Seelsorgsbezirk Suhl gab es 1949 54 Erstkommunionkinder, von denen 48 Zugezogene waren, nur sechs wurden in Suhl geboren. Von den sechs in Suhl geborenen war wiederum nur bei zwei Kindern das eine Elternteil in Suhl geboren, alle anderen waren zugewandert aus Ost und West. Der Ortspfarrer resümierte: „Ein typisches Beispiel einer stets sich erneuernden Diaspora-Wanderpfarrei.“65
In ländlichen, bisher rein protestantischen Gebieten entstand durch den Zuzug der Katholiken aus Ostmitteleuropa eine neue Diaspora, die nichts Herkömmliches mehr an sich hatte. Die konfessionellen Verhältnisse hatten sich unverkennbar zu Gunsten der Katholiken verschoben.66 Gleichzeitig etablierten sich in diesem neuen Kontext neue Konzepte von Seelsorge, da Kirche und Katholizismus nicht mehr dieselben wie die von 1932 waren.67 Der Zuzug katholischer Schlesier, Sudetendeutscher oder Ermländer ließ die Diaspora Mitteldeutschlands gar als Diaspora der Heimatvertriebenen oder als „Flüchtlings-Diaspora“ erscheinen.68 Offenkundig hatten 1945 Transformationsprozesse von entscheidender Bedeutung eingesetzt, die fulminante und nie gekannte Veränderungen mit sich brachten. Auch die Hermeneutik des Diasporabegriffs erfuhr eine Erweiterung, die der neuen Situation Rechnung trug.
Die heimatvertriebenen Katholiken kamen in ein Gebiet, das durch die alte, konfessionelle Diaspora geprägt war und auch weiterhin geprägt sein sollte: die konfessionelle Minderheit der Katholiken69 lebte in einer konfessionellen Mehrheit von Protestanten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts behauptete dieser konfessionelle Diasporabegriff das Feld der theologischen und historischen Forschung.70 Hinzu trat alsbald eine weitere, neue Form der Diaspora: Die konfessionelle Minderheit befand sich in einer einheitlich geprägten ideologischen Umwelt, was man mit „ideologischer oder weltanschaulicher Diaspora“ umschrieb.71 Dieser Begriff tritt Mitte des 20. Jahrhunderts erstmals auf72 und kennzeichnet die Situation der (heimatvertriebenen) Katholiken in der SED-Diktatur. Infolgedessen änderte sich auch das Verhältnis zwischen katholischer und evangelischer Kirche, sodass bezüglich der Ökumene neue Wege beschritten werden konnten: „Die Evangelischen waren nicht die ‚anderen‘. Die Kirchen verstanden sich in der gleichen Bedrängnis zusammengehörig. Die ‚anderen‘: das war die Partei, der Staatssicherheitsdienst, oftmals die Schule. Deswegen bestand der Abstand nicht mehr zwischen den Konfessionen, sondern zwischen den Christen einerseits und der marxistisch-leninistischen durchgesetzten Gesellschaft andrerseits: eine ideologische Diaspora.“73 Die Katholiken in der DDR lebten also in einer „doppelten Diaspora“74, die die Minderheitensituation der Katholiken gegenüber evangelischen Kirchen wie auch eine