Der Traum von Heilung. Christian Schürer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Schürer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199228
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kaum verändert worden seien.47 Doch leiste Davos gegen die Lungenschwindsucht bei Weitem mehr, als bisher gehofft werden konnte. Durch viele glückliche Erfolge würden immer mehr Ärzte Vertrauen zu Davos gewinnen, weshalb die Zahl der Patienten stetig zunehme.48 Ramann warnte dabei vor zu kurzen Kuraufenthalten: Auch bei leichten Fällen brauche es bis zur Heilung Monate, bei schweren oft Jahre. Zudem konterte der langjährige Kurgast in seinem Buch Vorwürfe von Hermann Brehmer gegen den Kurort Davos. Dieser hatte, wie im letzten Kapitel gezeigt, etwa vor Gletscherluft gewarnt, die für Lungenkranke schädlich sei. Ramann erwiderte, dass der nächste bei Davos Platz gelegene Gletscher drei bis vier Stunden entfernt sei.49

      Die Tatsache, dass sich der Kurort Davos weiterhin erfolgreich entwickelte, lag aber auch an Alexander Spengler. «Er [Spengler] sieht rasch – und das ist wahrscheinlich seine Hauptleistung – die grossen Zukunftsmöglichkeiten», urteilte der langjährige Davoser Chefarzt Felix Suter 1997 in seiner Darstellung der Geschichte des Tuberkulose-Kurorts.50 Spengler veröffentlichte 1869, «vielseitigem Verlangen entsprechend», wie er im Vorwort schrieb, die 66-seitige Schrift Die Landschaft Davos als Kurort gegen Lungenschwindsucht. Diese Broschüre stiess auf breites Interesse und erschien später in einer zweiten Auflage. Spengler breitete in ihr ein grundlegendes Programm für die Behandlung im Höhenklima aus und beschrieb die Gründe für dessen Heilkraft. Einer der wichtigsten Faktoren der Therapie sei, schrieb Spengler, «der consequente Aufenthalt in verdünnter, trockener Luft auf geschützten Höhen, wo Lungenschwindsucht unter den Bewohnern nicht vorkommt».51

      Die theoretische Begründung für die angebliche Heilkraft der Höhenluft wie auch die Behandlungsmethode übernahm Spengler von Hermann Brehmer. Dies fiel auch Brehmer selbst auf: 1874 kritisierte er, dass gewisse Ärzte seine Behandlung der Phthisis «ausbeuten» würden, indem sie im Höhenklima nach seiner Methode Phthisiker behandelten, und erwähnte dabei Spengler.52 Brehmer betrachtete Davos offenbar auch als «verunglückte Kopie der Görbersdorfer Kuranstalt».53 Spengler hingegen behauptete, dass seine Erörterungen nicht fremden Quellen entstammen würden. Sie seien das Ergebnis langjähriger Erfahrung.54 Der Vergleich mit Texten von Brehmer zeigt indes zahlreiche Übereinstimmungen mit Brehmer. So übernahm Spengler wie erwähnt von Brehmer das Argument, dass das Höhenklima eine immunisierende Wirkung gegen die Tuberkulose habe. Auch war die Behandlungsmethode, die Brehmers Assistent Friedrich Unger nach Davos gebracht hatte, dieselbe. Wie Brehmer therapierten auch die Davoser Ärzte gemäss den Prinzipien der Diätetik.55 Zentral bei der Behandlung war gemäss Spengler, «dem Patienten so viel nur immer möglich den Aufenthalt in der freien Luft zu gewähren».56 Brehmer beschrieb es ganz ähnlich: «Der Patient sollte eigentlich fortwährend im Freien sein.»57 Wie Brehmer setzte auch Spengler auf das richtige Mass von Bewegung und Ruhe. Je nach Krankheitsstadium stehe im Freien Ruhe oder mässige Bewegung im Vordergrund, erklärte Spengler, «um die verschiedenen heilkräftig einwirkenden Factoren der verdünnten Luft zur Geltung zu bringen».58 Eine eigentliche Liegekur praktizierte auch Spengler nicht. Hingegen spielte wie bei Brehmer die Hydrotherapie eine gewichtige Rolle: Spengler setzte stark auf die Dusche, «welche die Phthisis bei ihrer Achillesverse, von der Haut aus angreift».59 Auch die Diät der Kranken war ähnlich: Ganz nach Brehmers Vorgabe verordneten die Davoser Ärzte reichlichen Milchgenuss, eine möglichst fetthaltige und gemischte Kost sowie die systematische Verabreichung von alkoholischen Getränken wie Cognac oder Wein. Während in Görbersdorf Ungarwein ausgeschenkt wurde, war es in Davos Veltliner Wein, dem die Davoser Ärzte heilsame Eigenschaften zuschrieben.60 Die Kurmassnahmen in Davos wurden zwar von einem Arzt angeordnet, doch bei der Ausführung hatten die Patienten, die in Hotels oder Pensionen wohnten, viel Freiraum. Davos war deshalb zu Beginn ein sogenannt offener Kurort.61

      Spengler, der Schüler Carl Ludwigs, versuchte, die Heileffekte des Höhenklimas physiologisch zu begründen, und verwies dabei auf Publikationen seines Lehrers, etwa auf Ludwigs Lehrbuch der Physiologie des Menschen.62 Spengler beschrieb die physiologische Wirkung verschiedener höhenspezifischer Klimafaktoren wie verminderter Luftdruck, verminderter Sauerstoffgehalt der Luft, Feuchtigkeitsverhältnisse und Temperaturen auf den Organismus.63 Wie vor ihm Brehmer erachtete auch er den verminderten Sauerstoffgehalt der Höhenluft als entscheidend. Da Davos rund 1000 Meter höher liegt als Görbersdorf, hatten die Vertreter von Davos bei diesem zentralen Argument einen Vorteil gegenüber Brehmer. Durch die dünne Höhenluft wurde laut Spengler die Inspiration tiefer und das Atmen langsamer.64 Der physiologische Effekt davon sei die «Erweiterung des Thorax und Zunahme seiner Lungencapacität». Auch stelle sich eine Veränderung der Herzbewegung ein, wobei sich die «Saugkraft» der Blutorgane erweitere. Als Drittes konstatiert Spengler die «[b]essere Ernährung des Gesamtorganismus». Jeder, der sich einmal in den Alpen aufgehalten habe, habe erfahren können, wie «sein Appetit sich verstärkte, seine Kräfte zunahmen und sein Schlaf erquickender wurde».65

      Was die Erörterung der Krankheitsursache anbelangt, waren sich Spengler und Brehmer wiederum sehr ähnlich. Denn die Ätiologie stand bei beiden Ärzten im Einklang mit ihren therapeutischen Konzepten, mit welchen sie die Tuberkulose zu heilen versprachen. Spengler ging wie Brehmer von einer «Ernährungsstörung» als Ursache der Lungenschwindsucht aus. Diese allgemeine Ernährungsstörung galt es gemäss Spengler zu bekämpfen, was dann auch die Heilung der Krankheit mit sich bringe.66 Der französische Arzt Jean-Antoine Villemin (1827–1892) hatte die Übertragbarkeit der Tuberkulose durch Überimpfung von tuberkulösem Material auf Kaninchen 1865 nachgewiesen.67 Doch nicht nur Spengler war 1869 noch weit davon entfernt, die Tuberkulose auf Ansteckung zurückzuführen. Im Vordergrund stand damals bei Spengler, wie auch bei Brehmer und vielen anderen Medizinern, eine «Anlage zur Phthise», eine «Disposition». Diese könne vererbt werden und beruhte gemäss Spengler auf «einer Anomalie der Gesamtkonstitution». Im Hochgebirge werde die Konstitution gekräftigt. Sowohl die «Anlage zur Phthise» wie die Phthise selbst würden durch die Gebirgskur mit Erfolg bekämpft.68

      Alexander Spengler legte mit seiner 1869 publizierten Schrift anschaulich dar, warum für Lungentuberkulöse eine Höhenkur in Davos vorteilhaft sein sollte. Damit verortete er, mit der Unterstützung Conrad Meyer-Ahrens’, die eigentlich von Brehmer mit Bezug auf Görbersdorf formulierte Theorie des heilsamen Höhenklimas in den Schweizer Alpen. Davos (1560 m ü. M.) wurde schon bald zum Referenzort der Theorie, da seine Vertreter spezifische Wirkungen des Höhenklimas geltend machten, die das deutlich tiefer gelegene Görbersdorf (560 m ü. M.) nicht vorweisen konnte. Spenglers frühes und energisches Eintreten ermöglichte Davos gegenüber anderen potenziellen Schweizer Höhenkurorten einen Vorsprung. Entscheidend für den Aufstieg von Davos war die frühe Unterstützung von prominenten Medizinern im In- und Ausland.69 Einen wichtigen Fürsprecher hatten Spengler und Davos beispielsweise in der Person des deutschen Mediziners Anton Biermer (1827–1892), der in Bern und nachher Zürich als Professor für Pathologie wirkte und sich mit den Erkrankungen der Atmungsorgane beschäftigte. Im Mai 1872 beschrieb Biermer in einem Vortrag an der Versammlung des ärztlichen Zentralvereins in Olten die klimatischen Kuren. «Der Süden heilt die Katarrhe, das Höhenklima bessert die Constitution», erklärte er. Biermer bevorzugte das Höhenklima, das einen kräftigenden Einfluss habe. Der Schlüssel zum Verständnis der gelungenen Kuren von Davos lag nach der Meinung Biermers darin, dass die Kranken mehr Esslust und Verdauungskraft bekommen würden. Sie würden mehr Blut und Fett bilden, während die tuberkulösen Prozesse in der Lunge gestoppt würden.70 «Die Winterkuren in Davos und St.Moritz leisten noch mehr als die Sommerkuren», meinte er, «woran die gleichmässige, sonnenreiche, wind- und nebelarme Witterung des Hochthal-Winters die Schuld sein mag.» Gegenüber den südlichen Kurorten markierte Biermer eher Distanz: Er sei kein Verehrer der italienischen Kurorte und empfehle nur weiter südlich gelegene Stationen, am meisten Madeira und in zweiter Linie Algier, Malaga und für gewisse Fälle Kairo.71 Biermer gehörte denn auch zu den medizinischen «Autoritäten», die laut den Davoser Blättern Kranke nach Davos sandten.72

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