Hermann Weber verordnete auch der jungen, schwer lungenkranken Margaret Jones einen Kuraufenthalt in Davos. Diese Überweisung erwies sich als folgenreich. Jones war die Gattin des holländischen Unternehmers und Bankiers Willem Jan Holsboer (1834–1898), der massgeblich zum Aufbau des Kurorts Davos beitragen sollte. Das Ehepaar kam im Mai 1867 nach strapaziöser Reise und anstrengender Kutschenfahrt durchs Prättigau in Davos an. Doch konnte das Höhenklima die junge Frau nicht retten. Margaret Holsboer-Jones starb im Oktober des gleichen Jahres im Alter von 20 Jahren. Trotzdem war Willem Jan Holsboer von der Zukunft des neu entstehenden Kurorts überzeugt, sah dessen ökonomisches Potenzial und übernahm eine zentrale Rolle als Investor. Der spätere Erbauer der Eisenbahnlinie Landquart–Davos (fertiggestellt im Jahr 1890) beteiligte sich am Bau eines Kurhauses in Davos Platz , dessen Erstellung wegen Kapitalmangel ins Stocken geraten war. 1868 eröffnete er die Einrichtung zusammen mit Alexander Spengler als «Kuranstalt Spengler-Holsboer».78 Als diese 1872 abbrannte, baute er mit Unterstützung von Basler Financiers, insbesondere des Bankiers Friedrich Riggenbach, ein neues, grösseres Haus, die «Kuranstalt W.J. Holsboer», die im Herbst 1873 ihren Betrieb aufnahm.79 Medizinunternehmer Holsboer förderte auch das Kurleben mit Theateraufführungen und Konzerten und liess 1881 ein Konversationshaus mit grossem Konzertsaal bauen.80
Kurgäste in Davos. Postkarte von 1909.
Kurhaus Davos Platz, eröffnet 1873 als «Kuranstalt W. J. Holsboer».
Der Ausbau des Kurorts war dringend nötig. Nach 1865 stieg die Gästezahl in Davos ständig. Die bauliche Entwicklung hinkte dem Zustrom an Patienten hinterher. Nach und nach entstanden zum Teil repräsentative Hotels und Pensionen.81 Eine im Jahr 1877 von der Kuranstalt Holsboer herausgegebene Werbebroschüre zeigt, dass in Davos nebst dem Kurhaus sieben grössere Hotels sowie 30 Pensionen und Villen Kurgäste aufnahmen. Die Bestimmung von Davos sei es, ein «Sanatorium für Lungenkranke» zu sein, in dem Patienten Monate oder Jahre verbringen und ein «möglichst behagliches Stillleben» führen würden, hiess es in der Broschüre.82
Anfänglich kamen die meisten Patienten aus der Schweiz, Deutschland, Österreich und Holland. Wichtig für das weltweite Renommee von Davos wurden mit der Zeit Gäste aus England. Diese waren zu Beginn vor allem im noch heute bestehenden Hotel Belvedere zu Gast, das der lungenkranke deutsche Kaufmann Johann Carl Coester (1846–1892) 1875 mit rund 30 Zimmern eröffnet hatte.83 Coester plagten auch in Davos gesundheitliche Probleme, dennoch baute er sein Hotel ständig aus und unternahm einen «energischen Werbefeldzug in England».84 In einem Artikel erwähnte Coester insgesamt 25 Beiträge über Davos, die im Jahr 1877 in englischen Zeitungen erschienen waren. Dies hatte gemäss Coester zur Folge, dass die Zahl der englischen Kurgäste deutlich anstieg.85 Als einer der ersten bekannten Publizisten kam 1877 der englische Kunsthistoriker John Addington Symonds (1840–1893) nach Davos. Selbst lungenkrank, liess er sich in Davos nieder und verfasste bereits ein Jahr später einen «begeisterten Aufsatz» über Davos im Winter. Er popularisierte die Kur und den Winteraufenthalt in den Alpen. Zudem fand er Begeisterung für den Wintersport und wurde Präsident des Britischen Schlittelclubs in Davos. 1893 starb er im Alter von 53 Jahren an Tuberkulose.86 In Davos entstand nach und nach ein englisches Viertel mit eigener Kirche und Konsulat.87 Auch russische Vereinigungen und Institutionen wurden ab den 1890er-Jahren in Davos gegründet. Bereits Mitte der 1860er-Jahre hatten Russen zu den ersten Kurgästen gezählt.88 Im Jahr 1909 übertraf dann die Zahl der Russen diejenige der Engländer. Die Russen stellten damit hinter Deutschen und Schweizern das grösste Gästekontingent.89
«Feinde ringsum»: Streit um die Höhenkur
Nebst Fürsprechern hatte der Luftkurort Davos von Anfang auch Kritiker. «Feinde ringsum» titelten die Davoser Blätter, das Sprachrohr des Kurorts, 1875 mit Bezug auf verschiedene Publikationen, in denen Kritik am Kurort geäussert worden war.90 Nicht selten handelte sich bei den Kritikern um Ärzte, die ebenfalls Tuberkulosepatienten therapierten und in direkter Konkurrenz zum aufstrebenden Kurort standen. Verschiedene Äusserungen machen deutlich, dass die in Artikeln und Referaten vorgebrachte Kritik auch dazu diente, den Geschäftsgang des eigenen Kurorts oder Etablissements zu stärken und die Konkurrenz zu schwächen. Einer der gewichtigsten Kritiker von Davos war, wie bereits im vorangehenden Kapitel dargestellt, Hermann Brehmer, der eigentliche Vordenker der Höhenbehandlung und Gebieter über einen grossen Kurbetrieb im schlesischen Görbersdorf. Unter anderem kritisierte Brehmer, dass lungenkranke Patienten in der Schweiz oft nicht in ärztlich geleiteten Anstalten, sondern in Gasthöfen untergebracht seien – für Brehmer ein «Unwesen». Er schrieb, dass nur ein Arzt als Leiter einer Heilanstalt die Interessen seiner Patienten berücksichtige. Pensions- und Hotelwirte hingegen würden die Exzesse der Patienten begünstigen, um mehr Einnahmen zu erzielen.91
Doch auch Vertreter von Kurorten am Mittelmeer, die lange Zeit als erste Adresse für Schwindsüchtige galten, äusserten Zweifel an der Höhentherapie, während deren Exponenten gegenüber den Kurorten am Mittelmeer zum Teil schwerwiegende Bedenken vorbrachten. Alexander Spengler etwa bezog in seiner Broschüre von 1869 gegen mögliche Konkurrenten Stellung: «Cairo, das windige Nizza und Cannes, das staubige Mentone, Palermo, Madeira, die Schwefelbäder der Pyrenäen, die Ufer des Genfer Sees» – sie alle seien zur Behandlung der Lungenschwindsucht ungeeignet. Denn für die Behandlung gelte es einen Ort zu wählen, von dem man wisse, dass diese Krankheit unter den Einwohnern nicht vorkomme. Davon könne bei den genannten Orten keine Rede sein, denn in diesen «als heilkräftig gepriesenen Gegenden» fordere die Tuberkulose zahlreiche Opfer.92 Auch andere Interessenvertreter des Höhenklimas bezogen Stellung gegen Kurorte am Mittelmeer, so der Arzt Johann Melchior Ludwig aus Pontresina im Oberengadin, ein Förderer des dortigen Kurorts.93 «Davos oder Riviera», fragte Ludwig in einem Artikel im Correspondenz-Blatt. Er erwähnte zwar die angenehm warme Luft an der Riviera, kam aber rasch auf deren Schattenseiten zu sprechen: Die Reise sei weit, der Aufenthalt sehr teuer. Zudem werde die Nachtruhe durch die Meeresbrandung bereits bei ruhigem Wetter beeinträchtigt, in hohem Grade bei starkem Wind, der «keine Seltenheit» sei. Wenig bekömmlich waren an der Riviera gemäss Ludwig auch die hygienischen Verhältnisse: «Die öffentliche Hygiene der Riviera steht buchstäblich in schlechtem Geruch.» Auch das Trinkwasser sei fast durchwegs schlecht. Doch das ist noch nicht alles: Der grösste Übelstand der Riviera sei der Staub. Denn zu dem Wenigen, was man über die Entstehung der Phthise wisse, gehöre der statistische Nachweis, dass sie «durch Inhalationen verschiedenartigen Staubes veranlasst werden kann».94 Gemäss Ludwig ist die Riviera Tuberkulösen also keineswegs zuträglich. Davos erschien da in besserem Licht: «Davos liegt für die Schweiz und Deutschland viel näher, die Reise und der Aufenthalt sind bedeutend billiger, die Heizeinrichtungen und das Trinkwasser vorzüglich. Körper und Geist geniessen vollkommene Ruhe. Der wesentlichste Vorteil ist aber die Reinheit der Luft. Staub kann keiner entstehen, da Strassen, Wiesen, Gärten mit solidem Schnee zugedeckt sind. Und was an der Riviera fault und stinkt, gefriert auf Davos.» Die Nachteile von Davos