Anfänglich stiessen Brehmers Anschauungen bei vielen Medizinern auf bescheidene Resonanz. In der zweiten Auflage seiner erstmals 1857 erschienenen Studie über Die chronische Lungenschwindsucht und Tuberkulose der Lunge beklagte sich Brehmer, dass seine Publikation «von der medizinischen Presse vollständig ignoriert» worden sei.5 Doch immerhin gehörte Alexander von Humboldt (1769–1859), der auf seinen Reisen Klima und Natur zahlreicher Länder erforscht und dokumentiert hatte, zu den Lesern der Schrift und lobte sie 1857 in einem Brief.6 Brehmer hatte seine Theorie der Heilung mit dem Einfluss von geografischen und klimatologischen Faktoren auf den Körper begründet, wie ihn auch Alexander von Humboldt und andere Naturforscher auf ihren Reisen in entlegene Gegenden untersucht hatten.7 Diese Gelehrten lieferten Brehmer wichtige Hinweise darauf, was die mutmasslich gesundheitsfördernde Lage der Heilanstalt anbelangte. Verschiedentlich berichteten sie, wie in diesem Kapitel gezeigt werden wird, von Gegenden, in denen es gemäss ihren Erkenntnissen keine Tuberkulose gab. Auch Brehmer ging davon aus, dass in bestimmten Gegenden keine Tuberkulose vorkam und dass dort eine «Immunität von der Lungenschwindsucht» bestehen würde.8 Für ihn war nun entscheidend, dass Tuberkulose nur geheilt werden konnte, wenn die Kur an einem solchen «immunen Ort» stattfand.9 Indem er auf die immunisierende Wirkung von hoch gelegenen Orten hinwies, wurde er zum eigentlichen Vordenker der Höhentherapie der Lungenschwindsucht.
In seiner Studie verpflichtete sich Hermann Brehmer der medizinischen Geographie. Dieses von der antiken Diätetik ausgehende Wissensgebiet bezeichnete er als «die Lehre von der Verbreitung der Krankheiten auf der Erdoberfläche».10 Verschiedene Vertreter der medizinischen Geographie suchten nach gesetzmässigen Zusammenhängen zwischen messbaren Variablen wie Erdkoordinaten, Höhe über Meer oder Lufttemperatur und der Verbreitung von Krankheiten. Sie orientierten sich an Ideen Alexander von Humboldts.11 Brehmer selbst errichtete ein Observatorium für meteorologische Beobachtungen, da Wind oder Feuchtigkeitsgehalt der Luft in seiner Sichtweise grossen Einfluss auf das Befinden der Lungenkranken hatten.12 Hinsichtlich der Therapie empfahlen Verfechter der medizinischen Geographie einen Ortswechsel in Gegenden mit einem der Gesundheit zuträglichen Klima.13 In jüngster Zeit interessierte sich die geografische Gesundheitsforschung für das Konzept der therapeutischen Landschaften, zu denen Wissenschaftler auch traditionelle «Gesundheitspflegelandschaften» wie Heilquellen, Berglandschaften oder Meeresluft zählen.14 Die medizinische Geographie weist Gemeinsamkeiten mit der Bioklimatologie auf. Dieses Wissensgebiet, das sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts formierte, integrierte die Erkenntnisse der geografischen Medizin und ist teilweise deckungsgleich mit ihr.15
Hermann Brehmer machte sich eine therapeutische Landschaft zunutze, von der er glaubte, dass sie frei von Tuberkulose sei. Er behandelte seine Patientinnen und Patienten in Görbersdorf, dem heute polnischen Sokolowsko, gelegen in einem Talkessel des zu den Sudeten gehörenden Waldenburger Berglands, auf 560 Meter über Meer. Ursprünglich hatte Brehmer Naturwissenschaften und Mathematik in Breslau studiert. Er war jedoch gezwungen, die Stadt zu verlassen, nachdem er sich an der revolutionären Bewegung von 1848 beteiligt hatte und vor der Justiz fliehen musste.16 Brehmer konnte seine Studien in Berlin fortsetzen, wandte sich aber der Medizin und der Erforschung der Tuberkulose zu. Er besuchte Veranstaltungen des bekannten Physiologen Johannes Müller (1801–1858). Seine Doktorarbeit schrieb er bei Johann Lukas Schönlein (1793–1864), der vorher für einige Jahre in Zürich Professor für klinische Medizin gewesen war und seit 1842 als Leibarzt des preussischen Königs Friedrich Wilhelm IV. wirkte. Schönlein setzte auf empirische, naturwissenschaftliche Methoden in der Medizin und hatte der Tuberkulose aufgrund der typischen Läsionen, der Tuberkel, 1839 ihren Namen gegeben.17 In seiner auf Latein verfassten Dissertation von 1853 stellte Brehmer die These auf, dass die Tuberkulose in frühen Stadien immer heilbar sei.18 Diese Aussage dürfte im Zusammenhang mit eigenen Erfahrungen gestanden haben: Brehmer soll nämlich in jungen Jahren selbst an Tuberkulose im Anfangsstadium erkrankt sein und sie überwunden haben.19 Bestätigt sah sich Brehmer durch Untersuchungen des Wiener Pathologen Carl von Rokitansky (1804–1878). Dieser hatte bei Sektionen festgestellt, dass 90 Prozent der nicht an Tuberkulose verstorbenen Menschen verheilte tuberkulöse Herde aufwiesen. Die tuberkulöse Lungenphthise sei zweifellos heilbar, folgerte der namhafte Pathologe 1844. Er widersprach damit der älteren Auffassung der Pariser Schule, welche die Krankheit als unheilbar erklärt hatte.20
Nach seinem Staatsexamen arbeitete Brehmer zunächst als zweiter Arzt in der Kaltwasserheilanstalt der mit ihm befreundeten Hydrotherapeutin Marie von Colomb (1808–1868) in Görbersdorf, das damals noch eine kleine, ärmliche Siedlung mit 340 Einwohnern, hauptsächlich Webern und Bauern, war.21 Brehmer erwarb die Einrichtung 1854. Er führte sie zunächst als Kaltwasserheilanstalt weiter und behandelte Patienten mit verschiedenen Krankheiten.22 Erst 1859 erhielt er die Konzession zur Führung einer Heilanstalt für Lungenkranke.23 1862 oder 1863 konnte Brehmer schliesslich einen Neubau mit 40 Zimmern und Gesellschaftsräumen eröffnen: die erste nur für Lungenkranke gebaute Heilanstalt.24 Bei seiner auf diätetischen Prinzipien beruhenden Behandlung der Lungenkranken setzte Brehmer auf Methoden der Hydrotherapie, wie sie bereits Marie von Colomb angewandt hatte. Von Colomb hatte sich mehrere Jahre als Patientin und Assistentin beim bekannten Naturheiler und Kaltwassertherapeuten Vinzenz Priessnitz (1799–1851) aufgehalten.25 Auch Brehmer hatte dessen Behandlungsmethode während eines Ferienaufenthalts kennengelernt.26 Brehmer kodifizierte in der Folge eine Methode zur Behandlung der Tuberkulose, zu der kalte Abreibungen, Wannenbäder oder eine «Walddusche» gehörten, bei der eiskaltes Wasser aus fünf Meter Höhe auf die Patienten fiel.27 Zudem empfahl er eine kräftige, nahrhafte Diät, den Konsum von Wein und von Milch mit Kognak zur besseren Verdauung. Die fettreiche Nahrung sollte gemäss Brehmer im Körper Wärme erzeugen, den Pulsschlag erhöhen und die Durchblutung fördern.28 Daneben setzte Brehmer auf ein bestimmtes Mass an Bewegung und Ruhe:
Neues Kurhaus Dr. Brehmer, erbaut um 1875.
Die Patienten hatten in der Parkanlage seiner Kuranstalt langsam bergauf zu gehen und sich auf den Bänken auszuruhen.29 Insbesondere förderte er den Aufenthalt in der frischen Luft: «Der Patient sollte eigentlich fortwährend im Freien sein», forderte Brehmer. Gemäss Brehmer war es überdies entscheidend, dass die Therapie unter dem wachsamen Auge eines Arztes stattfand, insbesondere weil Lungenschwindsüchtige zu «Exzessen» neigen würden.30 Die Patienten sollten durch eine «richtige» Lebensweise genesen und lernen, sich von gesundheitsschädigenden Einflüssen fernzuhalten.31 Hermann Brehmer avancierte so zum Pionier der sogenannten Anstalts- oder Sanatoriumsbehandlung der Lungentuberkulose, die auf die Kontrolle der Patienten durch einen verständigen Arzt innerhalb einer Heilanstalt setzte und während mehrerer Jahrzehnte die Standardtherapie der Tuberkulosebehandlung darstellte. Der Therapieversuch des englischen Arztes George Bodington von 1840, der auf ähnlichen Behandlungsgrundsätzen beruhte, blieb hingegen ohne direkte Nachahmer. Bodington war mit seinen Anschauungen auf Ablehnung gestossen und hatte resigniert.32
Zu Beginn fürchtete Brehmer, als Scharlatan bezeichnet zu werden, der die Heilung einer Krankheit versprach, die viele Ärzte als unheilbar betrachteten, wie er in der deutschen Ausgabe seiner Dissertation schrieb.33 1869 kritisierte er rückwirkend, dass nur schon «der Versuch, die Lungenschwindsucht zu behandeln oder gar zu heilen, mit dem Anathema [Kirchenbann, Ächtung] der Scharlatanerie gebrandmarkt» worden sei.34 Doch so allein, wie er es verschiedentlich darstellte, stand er mit seinen Ansichten in Medizin und Wissenschaft nicht: So wurde er direkt nach dem Erscheinen seiner Dissertation 1853 an die Leopoldina, die deutsche Akademie der Naturforscher, berufen.35 Zudem hatte Brehmer wie erwähnt äusserst prominente Lehrer und Mentoren. In seinen Erörterungen bezog er sich auf Erkenntnisse namhafter Mediziner wie des Pathologen Carl von Rokitansky, der bereits vor ihm die Heilbarkeit der Tuberkulose beschrieben hatte. In seinen Publikationen konnte er seine Heilmethode mit Verweis auf zeitgenössische medizinische Studien begründen. Dies überzeugte andere Ärzte: Der Hannoveraner