Hermann Brehmer las die Werke von Mühry oder auch Fuchs aufmerksam und zitierte sie in seiner Studie von 1869.62 Eine wichtige Referenz waren für Brehmer auch August Hirsch (1817–1894) und dessen Standardwerk Handbuch der historisch-geographischen Pathologie. Hirsch, Professor für Pathologie in Berlin und einer der wichtigsten Vertreter der medizinischen Geographie, schrieb, dass die Elevation einen «unbestreitbaren Einfluss» auf die «mehr oder weniger vollkommene Ausschliessung von Schwindsucht» in den betreffenden Gegend habe.63 Grundsätzlich ging Hirsch von einer «Immunität von Schwindsucht» ab 1800 Fuss (549 Metern) aus und begründete dies wie Brehmer oder Mühry mit einem verminderten Luftdruck.64 Es zeigt sich also, dass das Wissen um den heilsamen Effekt der Höhenlagen unter verschiedenen Gelehrten zirkulierte und schliesslich Hermann Brehmers These der immunen, tuberkulosefreien Orte mit wissenschaftlicher Autorität versah.
Konkurrenz unter Kurorten
Die Idee des immunen Klimas und die damit verbundene Begründung der Höhentherapie weckten auch das Interesse von Ärzten in der Schweiz. Der Hygieniker und ehemalige Chefarzt des Hôpital général von Genf, Henri-Clermont Lombard (1803–1895), veröffentlichte 1856 eine Studie mit dem Titel Les climats de montagnes considérés au point de vue médical.65 Als wichtigen Wirkmechanismus des Höhenklimas identifizierte Lombard den abnehmenden Luftdruck und die dünnere Luft mit weniger Sauerstoff in der Höhe, was für verschiedene Phänomene des menschlichen Körpers verantwortlich sei.66 Mit Verweis auf die Berichte von Gelehrten wie Johann Jakob von Tschudi kolportierte Lombard, dass die Lungentuberkulose bei den Bewohnern hoch gelegener Orte Südamerikas fast unbekannt sei. Er führte die Lungentuberkulose unter denjenigen Krankheiten auf, bei denen ein Aufenthalt in der Höhe zuträglich sei. Doch nicht immer sei eine Höhenkur angezeigt: Es gebe bestätigte Fälle, bei denen die Tuberkulose in der Höhe schneller fortschreite als in der Ebene. Auch sei die Furcht vor Lungenblutungen durch den Höhenaufenthalt berechtigt.67 Trotz solch kritischer Einwände sprach der Umstand, dass Lombard Regionen von über 1500 Meter über Meer als frei von der Tuberkulose erklärte, deutlich für eine immunisierende Wirkung des Höhenklimas. Lombards Buch über die Anwendung des Höhenklimas in der Medizin erlebte drei Auflagen. Seine Befunde dienten als Begründung, weshalb später Sanatorien in Davos, Arosa, Montana oder Leysin errichtet wurden.68 Der Gründer des Kurorts Davos, Alexander Spengler, stützte sich wohl ebenfalls auf Lombards Hypothese, dass die Tuberkulose ab einer Höhe von 1500 Meter über Meer «verschwinde», wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde.
Zunächst war es aber der deutsche Arzt Hermann Brehmer, der die Theorie des immunen Klimas in den Sudeten Schlesiens für therapeutische Zwecke nutzte und daraus in Form eines wachsenden Kurbetriebs Kapital schlug. Brehmer nannte seine eigene Behandlungsmethode «rationell» und kritisierte die bis dahin gängigen Methoden, beispielsweise die Molkenkuren, als «nicht rationell»: Man schicke Lungenschwindsüchtige in Molkenkurorte, «wo irgendein Schweizer ganz vortreffliche Molken» zubereite, und bedenke nicht, dass man den Patienten damit mehr schade als nütze. Auch Kuren in Mineralbädern brachten gemäss Brehmer keinen Nutzen. Und wenig sinnvoll seien auch Aufenthalte in südlichen Klimakurorten wie Nizza, Kairo oder Madeira, in denen die Lungenschwindsucht endemisch vorkomme.69 Dass seine «rationelle» Behandlung gerade in Davos Nachahmer fand und dass dortige Ärzte ebenfalls eine «Immunität von der Lungenschwindsucht» geltend machten, behagte Brehmer indes ebenso wenig. Als grundsätzliche Regel stipulierte er, dass die Immunität von der Schwindsucht in Norddeutschland schon bei rund 450 Meter Höhe beginne. Je näher ein Ort aber beim Äquator liege, umso grösser müsse die Elevation sein. In der Schweiz liege die Grenzlinie der Immunität deshalb bei rund 1500 Metern.70 Brehmer mahnte, dass auch dann nicht jeder Ort des Gebirges frei von der Phthise sei. Zudem dürfe man Lungenschwindsüchtige keineswegs starken Winden aussetzen.71
Gerade die Schweiz sei für die Lungentherapie gar nicht geeignet, befand Brehmer. Deren hoch gelegene Täler würden nämlich in der Nähe der Gletscher liegen. Und die Luft des ewigen Schnees scheine «entschieden schädlich» auf den Menschen zu wirken.72 Um dies zu belegen, verwies Brehmer auf Mitteilungen des Chemikers Jean-Baptiste Boussingault, der auf Empfehlung von Alexander von Humboldt Südamerika bereist hatte, und auf den berühmten Text Voyages dans les Alpes des Alpenforschers Horace-Bénédict de Saussure.73 Diese Männer ertrugen gemäss Brehmer die Gletscherluft schlecht. Brehmer warnte vor der Gefahr, dass Lungenkranke in Schweizer Hochtälern die «entschieden unreine Gletscherluft einatmen» würden. Unbekümmert von solchen Bedenken hätten aber einige Ärzte in Davos den Versuch unternommen, Schwindsüchtige zu behandeln – mit laut Brehmer unerfreulichen Resultaten. Er kritisierte, dass in Davos gemäss einer Mitteilung von 34 Kranken deren fünf starben. Die Resultate von Davos blieben damit laut Brehmer weit hinter denjenigen zurück, die in Görbersdorf erzielt wurden.74
Animositäten unter rivalisierenden Kurorten sollte es in der Geschichte der Höhenkur noch öfters geben, kämpften die Kurbetriebe doch um die gleiche, zahlungskräftige Klientel. Aus einer Publikation von 1874, in der Brehmer Kritik an seiner Behandlungsmethode zurückwies, geht hervor, dass ökonomische Interessen bei diesen Auseinandersetzungen ein zentrales Motiv waren. Die Kritik sei häufig «das Produkt persönlicher und geschäftlicher Animositäten», schrieb Brehmer. Diese geschäftlich bedingten Feindseligkeiten beinhalteten laut Brehmer «Angriffe» von Ärzten, die im Höhenklima Phthisiker behandeln würden. Zu diesen zählte Brehmer auch einen Freund von «Dr. Spengler in Davos».75 Allerdings gab es auch von unparteiischer Seite Einwände gegen Brehmers Behandlungskonzept. Solche äusserte etwa Hermann Lebert (1818–1878), Professor für klinische Medizin in Zürich und später in Breslau, im zweiten Teil seines umfangreichen Handbuchs über die Klinik der Brustkrankheiten von 1874.76 Lebert übernahm zwar die Meinung, dass sich die Höhe günstig auf die Tuberkulose auswirke. Doch waren seiner Ansicht nach alle bisherigen Erklärungen für die «angebliche Höhenimmunität» ungenügend. Insbesondere komme es auch auf der Höhe von 1500 Meter über Meer noch gar nicht zu einer erheblichen Abnahme der Sauerstoffmenge und zu physiologischen Reaktionen, welche die Wirkung des Höhenklimas erklären könnten.
Zudem bemängelte er, dass wissenschaftliche Nachweise für die Wirkung der Höhenkurorte fehlen würden.77 Der wissenschaftliche Status der behaupteten heilsamen Wirkung des Höhenklimas war also von Anfang an umstritten, weshalb die Verfechter der Höhenkur in den kommenden Jahrzehnten grosse Anstrengungen leisteten, wissenschaftliche Anerkennung zu gewinnen. Anfangs verdankten Görbersdorf wie auch Davos ihren Aufstieg dem Verweis auf die Hypothese der immunisierenden Wirkung hoch gelegener Orte. Diese Hypothese war verführerisch und stimulierend, wie Daniela Vaj schreibt, und regte zum Bau grosser Sanatorien und zur Gründung von Höhenkurorten an, auch wenn sie wissenschaftlich nie bewiesen wurde.78 Untersuchungen, die zum Teil noch zu Lebzeiten Brehmers entstanden, zeigten demgegenüber, dass das Höhenklima keineswegs immun gegen die Tuberkulose machte und auch Bewohner hoch gelegener Orte an dieser Krankheit starben.79 Felix Wolff, der im Jahr nach Brehmers Tod 1889 Chefarzt von dessen Anstaltskomplex in Görbersdorf wurde und später das auf 700 Meter über Meer gelegene Sanatorium Reiboldsgrün in Sachsen leitete, rückte von der Hypothese der immunen Orte ab. Er schrieb 1895, dass «die Immunitätslehre, in der Weise, wie sie Brehmer vertrat, schlecht oder gar nicht begründet war». Doch auch er hielt daran fest, dass dem Gebirge «eine eigene, fast nirgends wieder aufzuweisende Kraft» innewohne, die «vielleicht ein Heilmittel sein» könne.80
Eine Landschaft wird zum Sanatorium
Der Mann, der Davos erfand
1853 trat Alexander Spengler seine Stelle als Landschaftsarzt von Davos an. Spengler (1827–1901) ist «[d]er Mann, der Davos erfand».1 Der deutsche Arzt aus Mannheim erkannte, welches Potenzial die damals zirkulierenden Berichte über einen heilsamen Effekt des Höhenklimas hatten, und nutzte dieses Wissen für die Behandlung von Lungenkranken im Landwassertal. Mit Spengler begann der Aufstieg von Davos zum weltbekannten Lungenkurort, der 1901, in Spenglers Todesjahr, über 15 000 Gäste beherbergte.2