Der Traum von Heilung. Christian Schürer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian Schürer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783039199228
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Ärzte auf Brehmers Angebot aufmerksam.36 Der Aufenthalt in Görbersdorf, der oft mehrere Monate dauerte, dürfte wohl eine kräftigende Wirkung auf Patienten gehabt haben, was zwar nicht zu einer Heilung, aber zu einer vorübergehenden Besserung geführt haben mochte. Dies lässt sich aus Brehmers eigener Statistik von 1869 ablesen, die seine Erfolge dokumentieren sollte: Gemäss dieser wurden von 958 behandelten Lungenschwindsüchtigen 20 Prozent «dauernd» geheilt, bei einer durchschnittlichen Kurdauer von knapp drei Monaten. Brehmer beschrieb beispielsweise den Fall eines 24-jährigen Landwirts, der sich 15 Monate in der Anstalt behandeln liess: Dieser sei als «relativ gesund» entlassen worden und lebe noch, was einen Erfolg darstellen würde.37 Weitere, von Brehmer dokumentierte Krankengeschichten sollten zeigen, dass seine Behandlungsmethode auch «Triumphe» bei Patienten in vorgerückten Stadien der Krankheit feiern würde. Führte die Kur nicht zum Erfolg, lag dies hingegen nicht an der Therapiemethode: «Erreichen nicht alle Patienten diese Resultate, sind die Ursachen dafür meist in den Patienten selbst oder deren sozialen Verhältnissen zu suchen», schrieb Brehmer.38 Eine solche Argumentation, welche die Verantwortung für den Misserfolg der Therapie auf die Patienten abschiebt, benutzten später auch andere Tuberkuloseärzte. Als Folge des Zustroms von Patienten liess Brehmer von 1875 bis 1878 in Görbersdorf einen neuen, prächtigen Gebäudetrakt im gotischen Stil bauen.39 Auch andere Investoren wollten vom Renommee Görbersdorfs profitieren und eröffneten im Ort weitere Tuberkuloseheilanstalten. Görbersdorf entwickelte sich zu einem der wichtigsten Klimakurorte in Deutschland. In einer im Orell-Füssli-Verlag in Zürich 1882 erschienenen Broschüre über Brehmers Heilanstalt heisst es: Das anfänglich «so viel angefeindete oder gar verspottete Brehmer’sche Heilverfahren» sei heute «fast überall für die Behandlung des Leidens massgebend geworden».40

      Im Rahmen der medizinischen Diskussion um die Behandlung der Lungentuberkulose war Brehmers Erfolg hauptsächlich zwei Faktoren geschuldet: Zum einen kam Brehmer zu Hilfe, dass sich seine Hypothese von hoch gelegenen, «immunen» Orten gut mit dem im Kapitel «Die gesunde Schweizer Alpenluft» geschilderten romantischen Bild der Alpen verbinden liess, gemäss dem die Berge Orte der Kraft und Gesundheit waren. Zum anderen übernahm er die bei Ärzten im 19. Jahrhundert populären Vorstellungen der Diätetik und knüpfte dabei an Beobachtungen von Naturforschern wie Alexander von Humboldt an. Die Historikerin Daniela Vaj hat gezeigt, wie entscheidend deren Texte für die Etablierung der Höhenkur der Tuberkulose waren.41 Sie weist in ihrem Aufsatz denn auch darauf hin, dass der therapeutische Gebrauch der Alpenluft und das Schicksal der Höhenkurorte nicht nur eine Folge der Promotionstätigkeit von Ärzten war, welche die Idee der Höhenkur verbreiteten. Vielmehr formulierten zahlreiche Ärzte und Gelehrte im Zeichen des Neo-Hippokratismus rund um den Globus in Studien die Hypothese der kurierenden Höhenluft.42 Zentral für diese Hypothese war anfänglich die Idee von immunen, angeblich tuberkulosefreien Orten. Die diesbezüglichen «Beobachtungen» waren zugleich Ausdruck persönlicher Vorstellungen wie auch empirischer Begebenheiten.43 Hermann Brehmer, der seine Heilanstalt im – mit rund 500 Meter über Meer vergleichsweise niedrig gelegenen – Bergland von Görbersdorf eröffnete, übernahm diese Idee und entwickelte davon ausgehend ein theoretisches Konzept zur Heilung der Tuberkulose. In seiner bereits erwähnten Studie von 1869, in der er das medizinische und geografische Wissen seiner Zeit breit rezipierte, erwähnte er verschiedene Orte, an denen die Tuberkulose offenbar nicht oder nur selten vorkam. Insbesondere verwies er auf die Seltenheit der Lungenschwindsucht in einigen hoch gelegenen Regionen: den Kordilleren in Peru, der Hochebene von Mexiko oder den höher gelegenen westlichen Regionen von Texas.44 Brehmer betonte aber, dass auch in gewissen Regionen Deutschlands die Tuberkulose ab einer gewissen Höhe nicht mehr vorkomme, und zwar bereits ab 1500 Fuss (457 Metern).45 Was die Lage von Görbersdorf anbelangte, gab er sich überzeugt, dass eine höhenbedingte Immunität vorliege. Als Grund für diese gegen Tuberkulose immunisierende Wirkung der Höhenlagen nannte Brehmer den mit zunehmender Höhe verminderten Luftdruck und dessen physiologische Auswirkungen. Auch aufgrund von Messungen am eigenen Körper stellte er fest, dass die Pulsfrequenz mit sinkendem Luftdruck zunahm.46 Diese Zunahme der Pulsfrequenz war gemäss Brehmer von entscheidender Bedeutung für den Heilungsprozess. Brehmer hielt die Tuberkulose nämlich für die Folge einer «Ernährungsstörung»: Aufgrund eines zu kleinen und schlaffen Herzens werde dem Körper «ein zu geringes Quantum an Ernährungsmaterial zugesendet», und die Ernährung des ganzen Körpers könne so keine normale sein.47 Eine Zunahme der Pulsfrequenz durch das Höhenklima wirkte dem nach Ansicht von Brehmer entgegen.48 Zudem werde so der Stoffwechsel gesteigert.49 Brehmers Erklärung der Höhenwirkung verweist auf das Wissensgebiet der Höhenphysiologie, das, wie später gezeigt wird, für die Begründung der heilsamen Wirkung des Höhenklimas zunehmend wichtiger wurde.

      Die Idee von immunen hoch gelegenen Orten baute, wie bereits erwähnt, wesentlich auf der Forschungstätigkeit von Alexander von Humboldt auf.50 Auf der zusammen mit dem Naturforscher Aimé Bonpland (1773–1858) unternommenen amerikanischen Forschungsreise von 1799 bis 1804 sammelte von Humboldt nicht nur umfangreiche Daten zu Flora und Fauna oder Meeresströmungen, sondern suchte auch nach den Gesetzen ihrer Verbindungen.51 In der grossformatigen Zeichnung «Tableau physique des Andes et Pays voisins» stellte von Humboldt die Vegetation in den Anden dar und ordnete sie ihrer Höhe über Meer zu. Seine Darstellung führt 13 verschiedene Faktoren auf, die von Humboldt als abhängig von ihrer Höhe über Meer beschrieb: etwa die Abnahme des Luftdrucks, die Lufttemperatur, die chemische Zusammensetzung der Luft und die Intensität des Lichts.52 In dem das Tableau begleitenden «Essai sur la géographie des plantes» betonte von Humboldt, wie wichtig es sei, die Pflanzen im Verhältnis zu ihrem Klima zu sehen. Die von ihm vorgestellte Geografie der Pflanzen ordnet die Vegetation anhand von verschiedenen Zonen und Höhenlagen.53

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      Alexander von Humboldts «Tableau physique des Andes et Pays voisins», 1808.

      Von Humboldt selbst stellte gemäss Vaj anlässlich seiner Reise an den Äquator die Absenz der Phthise (Schwindsucht) in bestimmten hoch gelegenen Gebieten fest.54 Verschiedene andere Forscher bestätigten diesen Befund: Der schottische Arzt Archibald Smith berichtete in einem 1840 im Edinburgh Medical and Surgical Journal erschienenen Artikel, dass sich tuberkulosekranke Küstenbewohner in Peru besser fühlen oder gar geheilt würden, wenn sie sich in einer Höhe zwischen 5000 und 10 000 Fuss (also zwischen 1524 und 3048 Metern) aufhalten würden. Die Lungentuberkulose sei in den Bergen und inneren Tälern Perus generell eine seltene Krankheit.55 Auch der Schweizer Naturforscher und Diplomat Johann Jakob von Tschudi (1818–1889) hielt sich fünf Jahre in Peru auf. Er berichtete 1846 in der Oesterreichischen Medicinischen Wochenschrift in einer Serie von Artikeln über die geografische Verbreitung der Krankheiten in Peru. Er stellte das Verschwinden der Tuberkulose mit zunehmender Höhe in den Anden Perus fest. Die Krankheit sei in der dortigen Puna-Region äusserst selten, hielt von Tschudi fest. «Die Indianer scheinen eine vollkommene Immunität dagegen zu geniessen.»56 Diese in namhaften Fachzeitschriften publizierten Artikel dürften in der scientific community auf beträchtliche Aufmerksamkeit gestossen sein, da sie Hinweise auf die Heilung einer weitverbreiteten und tödlichen Krankheit enthielten.57

      Weitere Mediziner stiessen ins selbe Horn: Caspar Friedrich Fuchs, der in Thüringen als Arzt tätig war, kam zum Schluss, dass die Tuberkulose auf Meeresniveau am häufigsten sei und mit zunehmender Höhe an Häufigkeit abnehme, im Norden schon in tieferen Lagen als im Süden.58 Kranke sollten deshalb gemäss Fuchs auf die Berge versetzt werden.59 Auch der Göttinger Arzt und Privatgelehrte Adolph Mühry (1810–1888) beschäftigte sich mit der «Absenz der Phthisis» in einigen Gegenden. Er ging davon aus, dass in höheren Elevationen die Lungentuberkulose entschieden abnehme, als Folge der dünnen Luft. Beim Nachweis der Hypothese stellte sich gemäss Mühry das Problem, dass es in Europa nur wenige bewohnte Gebiete gebe, die auf über 2000 Fuss liegen und einen entsprechenden tiefen Barometerstand ausweisen würden. Zu den wenigen Gebieten zählen gemäss Mühry das Engadin und Davos in der Schweiz.60