Nicht nur die Kurorte am Mittelmeer stellten für die neuen Höhenkurorte Konkurrenz dar, sondern auch die Badekurorte. Dies kommt beispielsweise in dem 1873 in Berlin erschienenen, von Balneologen verfassten Handbuch der allgemeinen und speciellen Balneotherapie zum Ausdruck. In diesem ist auch die Klimawirkung ein Thema, allerdings wird diese lediglich «als herkömmliches und ziemlich natürliches Supplement der Balneologie» eingestuft.98 Die Badeärzte Wihelm Valentiner und Friedrich Camerer zweifelten zudem an der Wirkung der verdünnten Höhenluft, insbesondere an der «geschraubte[n] Erklärung ihrer Wirkung durch Brehmer». Die dünne Atmosphäre der Höhenkurorte Görbersdorf und Davos werde wohl nicht mehr lange als wesentlich angesehen werden, prognostizierten sie.99 Ein anderer Badearzt, Heinrich Schnyder (1828–1900), Kurarzt in Bad Weissenburg im Simmental, hinterfragte die Bedeutung der Höhenkurorte: Der Zug nach den sogenannten Luftkurorten sei «so sehr Mode und Schablone geworden, dass viele Kranke ihre Sommercur an einem beliebigen Luftcurorte beginnen und erst gegen den Herbst hin zu merken anfangen, wie verkehrt es war, sich nicht zuerst in Weissenburg einen kräftigen Anstoss zur Besserung zu holen».100
1881 veröffentlichte der Weissenburger Kurarzt im Correspondenz-Blatt «Reiseplaudereien». Schnyder berichtete von seinem Besuch in Davos, dem er nun endlich eine Visite abgestattet habe: «Bekanntlich führen alle Wege nach Rom und so fuhr ich denn in erster Linie nach Davos, dem Mekka so vieler Brustkranken, das ich auch noch nie gesehen hatte, was vom Standpunkte des Specialisten aus eine noch viel grössere Unterlassungssünde war, als der Nichtbesuch der ‹Eterna›.» Davos habe sich in erstaunlich kurzer Zeit vom bescheidenen Bergdorf zu einer schmucken Villa- und Hotelstadt entwickelt, berichtete er weiter.101 Doch liess Schnyder in seinem Bericht nicht unerwähnt, dass «ein Phthisiker auch in dem immunen Hochgebirgsthale sterben kann». Der neue Kirchhof von Davos sei schon «mit einer gewissen Anzahl zierlicher Leichensteine besetzt». Diese seien aber zweifelsohne «weniger den speziellen Einwirkungen des Höhenklimas aufs Kerbholz zu bringen» als dem Unverstand, Schwerkranke noch ins Hochtal zu schicken.102
Schnyder stellte fest, dass bis anhin verlässliche Resultate über die Behandlungserfolge in Davos fehlen würden. Auch andere Ärzte hatten kritisiert, dass es die Davoser Ärzte unterlassen hatten, in einer Statistik über die behaupteten Kurerfolge Rechenschaft abzulegen.103 Die Davoser Ärzte kamen der Forderung nur zögerlich nach. Spengler und Unger teilten dem in London tätigen Arzt Hermann Weber einige Daten für die Jahre 1865 bis 1867 mit, die Weber im British Medical Journal veröffentlichte. Gemäss dieser Statistik starben von 35 Patienten fünf, während sieben Davos als geheilt verliessen.104 Konkurrent Hermann Brehmer hielt diese Werte für wenig überzeugend im Vergleich zu Resultaten seiner Anstalt in Görbersdorf.105 Erst in späteren Jahren wurden weitere Statistiken über die Behandlung im Höhenklima vorgelegt, die sich allerdings oft durch schwammige Klassierungen wie «Zustand gebessert» oder «fast geheilt entlassen» auszeichneten.106
Indessen sass der Glaube an die Heilerfolge des Höhenklimas selbst bei einem gegenüber Davos nicht unkritischen und mit Davos in einem Konkurrenzverhältnis stehenden Mediziner wie Heinrich Schnyder tief. Dies zeigt dessen Äusserung, an Davos müsse etwas «dran sei», es könne sich doch nicht einfach um «blosse Theorie» handeln: «Es ist doch kaum denkbar, dass alljährlich Hunderte von Patienten einer blossen Theorie zu lieb sich in Schnee und Eis gegen die ganze Welt abkapseln würden, wären nicht positive Erfolge da, welche dazu aufmuntern könnten.» Das Heilklima von Davos als Konstruktion – dies vermag Schnyder nicht zu denken angesichts der Tatsachen «der von Jahr zu Jahr steigenden Frequenz des Kurortes».107 Dass das Versprechen der Heilung im Höhenklima nichts Zwangsläufiges, sondern eine Konstruktion war, zeigt ein Artikel von 1872 im Correspondenz-Blatt für Schweizer Aerzte: Der Kurarzt von Rigi-Scheidegg erachtet darin seinen Kurort im Gegensatz zu Davos als ungeeignet für die Behandlung der Tuberkulose, obwohl er auf ähnlicher Höhe liege. Leider komme es oft vor, dass Patienten mit Tuberkulose zu ihm geschickt würden, berichtet der Kurarzt. Weiter schreibt er: «Der Tuberkulose Verdächtigte bekommen hier bald unangenehme Rückfälle; sie begreifen nicht, dass sie die Luft nicht vertragen können und wollen’s daher noch eine Zeit lang probieren, anstatt sofort wieder abzureisen, was ich schon Manchem geraten. So muss Mancher durch Schaden klug werden und mit einem neuen Schub der Phthise, auch nach etwaigen Haemorrhagien [Lungenblutungen], uns verlassen.»108 Die Wahrnehmung der Wirkung des Höhenklimas hätte sich also durchaus auch in eine andere Richtung entwickeln können. So blieb auch Conrad Meyer-Ahrens, der das Davoser Klima hoch gelobt hatte, zeitlebens skeptisch, was den Aufenthalt von Lungenschwindsüchtigen im kalten Davoser Winter betrifft.109 Auch in Davos gab es Verschlechterungen des Krankheitszustands und Tote. Doch bewerteten die dortigen Ärzte die Resultate anders und stellten die erfolgreichen Fälle in den Vordergrund.
Abschied vom immunen Klima
Um 1880 war es nicht mehr nur Davos, das sich in der Schweiz als Höhenkurort präsentierte. Dies zeigt ein Blick in den vielfach aufgelegten und auch in Deutschland verbreiteten Kurführer Die Bäder und Klimatischen Kurorte der Schweiz von Theoder Gsell-Fels, der erstmals 1880 erschien.110 Gsell-Fels war Arzt, Kunsthistoriker und vor allem Reiseschriftsteller, der populäre Reiseführer veröffentlichte. In seinem Kurführer präsentierte er die verschiedensten Bade- und Klimakurorte der Schweiz und nannte allein in Graubünden über 20 «klimatische Stationen», nebst Davos beispielsweise auch Churwalden, Bergün oder Pontresina.111 Im über 1800 Meter über Meer gelegenen Pontresina, das gemäss Gsell-Fels alle klimatischen Vorzüge des Oberengadins vereinigt, hatte der Kurarzt Ludwig bis ins Jahr 1880 15 Fälle von Lungenschwindsucht behandelt. Von diesen wurden sieben «völlig geheilt», während ein Fall sich nicht verbesserte und drei Patienten starben. Aus dieser eher durchzogenen Bilanz zog der Kurarzt gemäss Gsell-Fels das Fazit, dass die «radikalsten Erfolge» bei Patienten im Anfangsstadium erzielt werden konnten, während Patienten im fortgeschrittenen Stadium geringere Chancen hätten.112 Auch in anderen Kantonen stellte Gsell-Fels Luftkurorte vor. Im Berner Oberland erwähnte er speziell Grindelwald als Winterstation für Brustkranke. In der Innerschweiz war laut Gsell-Fels beispielsweise Rigi-Klösterli für Lungenkranke geeignet.113 Daneben zählte er zu den Luftkurorten auch den Uetliberg, den Zürcher Hausberg, mit einer Höhe von 870 Meter über Meer. Dieser eigne sich als diätetische Kurstation für Magenkranke oder Lungenleidende.114
Gsell-Fels vermerkte die «guten Erfolge» der Schweizer Kurorte. Bis jetzt als unheilbar erachtete Krankheiten würden nun als heilbar gelten, und besonders die Heilbarkeit der Lungenschwindsucht sei «in zahlreichen Fällen ausser Zweifel gestellt».115 Bei der Beschreibung der einzelnen Kurorte schenkte Gsell-Fels dem Pionierort Davos, der sich im Unterschied zu anderen Kurorten auf die Behandlung der Tuberkulose spezialisiert hatte, besonders viel Beachtung. Er könne aus eigener ärztlicher Erfahrung bestätigen, dass in Davos bei Behandlung der Lungenschwindsucht oft ausgezeichnete