Die junge Familie wohnt nun also wieder in Herschmettlen, dieser etwas besonderen Siedlung weitab der grossen Oberländer Zentren. Ob es ein Dorf oder doch nur ein Weiler ist, ist umstritten. Anfang der 1930er-Jahre gibt es immerhin noch zwei Dorfwirtschaften, den «Sonnenhof» im Unterdorf und die Weinschenke gleich gegenüber dem zollingerschen Doppelhaus im Mitteldorf. Auch hat es einen Dorfladen für den täglichen Bedarf und eine Sennhütte zuunterst im Töbeli. Sie wird dann 1937 zusammen mit der Käserei in der Fuchsrüti stillgelegt, als die Herschmettler und die Fuchsrütler Bauern gemeinsam eine neue Käserei an der Hauptstrasse im Ermisriet bauen. An der Strassengabelung im Mitteldorf steht das stolze Schulhaus. Zum Schulkreis Herschmettlen gehören auch das Ermisriet im Westen und die Fuchsrüti im Süden sowie der Weiler Hellberg im Nordosten, hinter dem Sennwald. So hat Lehrer Emil Trachsler nicht selten um die fünfzig Schülerinnen und Schüler in seiner Schulstube zu belehren, zu bändigen und wenn nötig zu züchtigen.
Die Herschmettler Familien bilden zwei Gruppen: die Bauern und die Fabrikarbeiter. Selbstständige Handwerker gibt es kaum, dafür fehlt die Kundschaft. Wer keinen eigenen Hof hat, arbeitet auswärts in einer Fabrik, hauptsächlich in der Schraubenfabrik Frey in Wändhüsle-Bubikon oder in der «Hösli», der Papierhülsenfabrik Robert Hotz und Söhne beim Bahnhof Bubikon. Nicht wenige der Fabrikarbeiter haben zu Hause noch ein Stück Land hinter dem Haus und halten ein Schwein, ein Rind oder ein paar Ziegen. Die Bauern gehen einer körperlich anspruchsvollen Arbeit nach: Kuh- und Ochsengespanne dominieren, Maschinen, welche die Arbeit erleichtern würden, gibt es noch nicht. Es kommt zu Rivalitäten und kleinen Reibereien zwischen den Bauern und den Fabrikarbeitern. Die Bauern beneiden die «Fabrikler» um ihre geregelten Arbeitszeiten und ihren bescheidenen Ferienanspruch. Die Arbeiter missgönnen den Bauern wiederum ihre Freiheiten und die reichhaltiger ausfallende Selbstversorgung. Doch die kleinen Sticheleien hindern die Frauen und Männer nicht daran, wöchentlich die Proben des Frauen- und Töchterchors beziehungsweise des Männerchors in Ottikon zu besuchen, anschliessend kehren sie jeweils gemeinsam ein.
Die Herschmettler gelten seit jeher als eigenwilligste Dorfgemeinschaft in Gossau mit einem starken Zusammenhalt. Das gilt bis heute. Zusammen mit Bertschikon, Grüt und Ottikon gehört Herschmettlen zu den Gossauer Aussenwachten. Der Bezug zum Gemeindezentrum ist lose. Gossau ist weit weg. Man geht dort in die Sekundarschule, man besucht sonntags allenfalls den Gottesdienst in der Kirche oder bemüht sich, an einer Gemeindeversammlung teilzunehmen. Die Bauern holen im Lager der Landwirtschaftlichen Genossenschaft auf dem Gossauer Berg ihren Dünger und ihr Saatgetreide. Sonst aber arbeiten die Herschmettler, wenn auswärts, dann in Bubikon. Für Einkäufe sind Wetzikon, Rüti und selbst das Städtchen Grüningen attraktiver. Und das Tor zur weiten Welt sind in dieser noch fast autolosen Zeit der Bahnhof Bubikon oder das Bahnhöfli der Wetzikon-Meilen-Bahn in Unterottikon.
So orientieren sich die Herschmettler, wenn auch in kleinräumigen Verhältnissen zu Hause, doch nach allen Himmelsrichtungen. Topografisches Symbol für diesen Blick hinaus in die Welt ist der Gerbel, ein runder, etwas quer in der durch Eis und Schnee gestalteten Landschaft liegender Moränenhügel. Er liegt auf der Wasserscheide von Glatt und Jona und exakt auf der Gemeindegrenze zwischen Gossau und Bubikon. Es ist ein Ort, von dem aus der Blick über mehr als ein Dutzend Kirchtürme im Oberland, am Greifensee, am Pfannenstiel und am Südufer des Zürichsees schweift. Hier auf diesem Hügel hütet Kobi Zollinger zusammen mit seinem Bruder Migg schon als kleiner Bub Kühe. Es mag sein, dass er deswegen zeitlebens den Gerbel als Zentrum seines Fühlens, Denkens und Handelns beschreibt. Sinnigerweise steht dort oben heute eine Ruhebank zu seinen Ehren, und sein wunderbar gezeichnetes Panorama lädt Wanderer dazu ein, die Gipfel der Glarner- und Innerschweizer Alpen benennen zu lernen. Schon als kleiner Junge setzt sich Kobi in den Kopf, all die Gipfel, die er vom Gerbel aus sehen kann, einmal in seinem Leben zu besteigen. Ein Vorhaben, das der begeisterte Berggänger dann auch umsetzt.
Kobi verschafft sich Respekt
Der Jüngste hat in Familien oft eine besondere Stellung. Das ist auch bei der Familie Zollinger in den 1930er-Jahren so. Der Abstand zum nächstälteren Bruder Migg beträgt anders als die zwei Jahre zwischen den restlichen Geschwistern drei Jahre. Nicht, dass Kobi allzu sehr verwöhnt wird, aber weil es genug kräftigere Hände zum Anpacken gibt, fällt seine Abneigung gegen körperliche Arbeit nicht schwer ins Gewicht. Kaum kann er richtig gehen und reden, beginnt er, seine Umgebung zu erforschen. Natürlich hört er in der Familie aufmerksam zu, wenn seine Geschwister Neuigkeiten austauschen. Von seinem Vater und von der Grossmutter Anna-Julia Zollinger hat er das wache Interesse für alles, was sich ereignet, geerbt. Seine eigentlichen Mentoren aber sind Frieda und Oskar Baumann. Das Geschwisterpaar, das wenige Schritte oberhalb des zollingerschen Hauses einen Bauernhof betreibt, ist belesen und vielseitig interessiert. Frieda erzählt dem aufgeweckten Knaben aus früheren Zeiten und rezitiert aus ihrem unglaublichen Fundus Kinderreime und Gedichte. Oskar weiss alles über die Geschichte des Dorfes, die Arbeit in der traditionellen Landwirtschaft und kennt unzählige Sagen und Legenden. Er sitzt als Vertreter von Herschmettlen 27 lange Jahre im Gossauer Gemeinderat und ist Mitgründer der lokalen Sektion der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB). Und er ist 1930 – in der schweren Zeit der Weltwirtschaftskrise – der Initiant zur Gründung der Raiffeisenkasse Gossau, der einzigen im Zürcher Oberland. Oskar dient ihr auch als langjähriger erster Präsident. Frieda und Oskar lehren Kobi, die Natur genau zu beobachten, und erklären ihm das wundersame Tun der Bienenvölker, die sie in ihren Körben an der Scheunenwand und im nahen Brännhüsli halten. Wenn der junge Kobi Zollinger später seine Zeitungsberichte zu naturkundlichen oder geschichtlichen Themen verfasst, ist Frieda stets die erste Leserin, Oskar der erste Leser. Und nichts ist ihm wichtiger als ein anerkennendes Wort von ihnen.
Die häusliche Aufgabe, die Kobi am liebsten übernimmt, ist das Hüten des Viehs auf dem Gerbel. An Hanfstricken führen Migg und Kobi die drei, vier Kühe auf den nahen Hügel hinauf. Dort müssen sie dafür sorgen, dass Netti, Flori, Schäfli oder Brüni keine fremden Kräuter fressen. Zäune gibt es nicht, und die beiden Buben haben stets darauf zu achten, dass ihre Kühe nicht auf Nachbars Grundstück grasen. Die Nachbarbuben von der Familie Hefti haben für die eigenen Kühe dieselbe Aufgabe. Wenn die Hirten ihre Pflicht vernachlässigen und es zu Reklamationen kommt, bricht bei Zollingers ein zürichdeutsches und bei Heftis ein Donnerwetter in Glarnerdialekt los. Beide Väter sind bekannt für ihr strenges Regime gegenüber ihrem Nachwuchs. «Unser Vater war sehr streng, aber gerecht», bemerkt Fritz Zollinger Jahrzehnte später, und sein Bruder Emil pflichtet ihm bei. Ab und zu habe es Schläge gegeben, aber nie seien sie unverdient gewesen.
Natürlich hecken die Viehhüter gemeinsam den einen oder anderen Bubenstreich aus. Einmal stehlen Migg, Kobi und ein Kamerad in der Fuchsrüti Eier und veranstalten mit ihnen ein klebriges Schützenfest. Der Geschädigte meldet den Vorfall Vater Zollinger, der die Buben bestraft. Ein andermal wirft ein Verdingbub bei Oskar Baumann aus der Scheune Trester auf eines der damals noch selten vorbeifahrenden Autos hinunter. Der Automobilist schreibt daraufhin einen zornigen Brief an Dorflehrer Robert Merz. Einen besonderen Streich weiss auch Walter Kunz aus der Fuchsrüti zu erzählen. 1938, er selber ist erst vier Jahre alt, Kobi Zollinger schon sieben, beobachtet die Mutter von Walter am Sonntagmorgen, dass Buben auf dem Dach der alten Sennhütte in der Fuchsrüti herumklettern und Scheiben einschlagen. Vater Kunz hat die stillgelegte Käserei erst kurz zuvor erworben. Am Samstag darauf kommt Kobi vorbei – er trägt wie üblich das Gelbe Heft aus, eine illustrierte Zeitschrift, deren Vertrieb die Zollingerbuben organisieren. Mutter Kunz erkennt am schön gemusterten Pullover einen der sonntäglichen Übeltäter. Sie kann sich eine Bemerkung nicht verkneifen und meint, Vater Zollinger solle seine Kinder am Sonntagmorgen besser in die