Es geht mir nicht darum, die Forschertätigkeit Jakob Zollingers zu würdigen und zu beurteilen. Dafür fehlt es mir an fachlicher Kompetenz. Diese Aufgabe übernimmt hier der Fachmann Walter Bersorger. Wenn sich künftig Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Zollingers Werken, Materialien und Arbeitsweisen auseinandersetzen wollen, steht ihnen dafür eine gewaltige Menge eindrücklichen Materials zur Verfügung.
Jakob Zollinger hat für seine Heimat – vor allem, aber nicht nur für das Zürcher Oberland – Grossartiges geleistet. Er hat das Verständnis der Oberländerinnen und Oberländer für ihre Herkunft sowie ihr Selbstbewusstsein gestärkt, indem er die Geologie dieser Region, ihre Natur, die Entwicklung der Kultur- und Siedlungslandschaft und die Lebensweise ihrer Bewohnerinnen und Bewohner in seiner eigenwilligen Art gründlich erforscht und packend dargestellt hat.
Ich möchte hier den Werdegang Jakob Zollingers nachzeichnen und herauszuarbeiten versuchen, was ihn zu seiner so vielfältigen Tätigkeit angetrieben hat. Einzelne Beispiele sollen zeigen, wie er geforscht und wie präzise er seine Erkenntnisse jeweils dargestellt hat. Bei meinen Nachforschungen habe ich manche Überraschung erlebt: Der äusserlich so ruhig und geerdet wirkende Mann wurde von grossen Selbstzweifeln geplagt und focht grosse innere Kämpfe aus. Er war als Lehrer nicht so unumstritten, wie ich das geglaubt hatte, und ist mit seiner Hartnäckigkeit beim Bewahren von Dingen und Zuständen, die er als wertvoll erachtete, weit mehr angeeckt, als ich es zunächst wahrhaben wollte.
Hätte Jakob Zollinger Freude am Erscheinen seiner Biografie? Sicher würde er sie in wohl anerzogener Bescheidenheit vordergründig als unnötig taxieren – und sich dann gleichwohl geehrt fühlen und sich ein bisschen freuen. Vielleicht so wie 2003, als die Universität Zürich dem einstigen Flarzbueb den Ehrendoktortitel verlieh.
Nachdem ich mich nun durch viel Material gearbeitet, mit Dutzenden von Menschen Gespräche geführt und den Kosmos meines ehemaligen Lehrers und Freundes weiter ergründet habe, muss ich meinen beiden Söhnen recht geben. Die Faszination für die Persönlichkeit Kobi Zollinger war immer da, und sie ist durch die spannende und bereichernde Arbeit an diesem Buch nicht kleiner geworden.
Heinz Girschweiler
Später Lohn für lebenslanges Forschen
Nein, das ist nicht der Ort, den er für eine Feierlichkeit zu seinen Ehren ausgewählt hätte. Dieser Bau aus Glas und Beton ist ihm fremd. Der ganze weitläufig auf den Milchbuck gepflanzte Campus der Universität Irchel ist es. Auch wenn grosse Blumenbouquets das Rednerpult und die Orchesterbühne im grossen Hörsaal schmücken, richtig wohlfühlen kann Jakob Zollinger sich hier nicht. Er ist inmitten der Honoratioren der Philosophischen Fakultät in den vollen Saal einmarschiert, streng gemäss dem Protokoll der Universität Zürich – es ist ihr 170. Dies academicus. Er sitzt jetzt in der ersten Reihe seitlich des Rednerpults neben dem Dekan und den weiteren Personen, die von der Philosophischen Fakultät geehrt werden.
«Auf in den Kampf», hat er am Morgen zu Hause in der Chindismüli in Ottikon-Gossau scherzhaft zu seiner Frau Elisabeth – seinem Bethli – gesagt. Sie sitzt auf einem reservierten Platz etwas weiter hinten, die beiden Töchter Eva und Lisa, der Sohn Röbi und weitere Familienangehörige und Freunde irgendwo in den steil aufsteigenden Reihen des Auditorium maximum. Elisabeth hat sich für den besonderen Tag ein neues, dunkelrotes Kleid gekauft. Jetzt stellt die Bauerntochter aus Schlatt am Schauenberg erschrocken fest, dass die geladenen Damen an diesem Ehrentag der Universität Zürich eigentlich nur Schwarz tragen, und sie fühlt sich ein bisschen deplatziert. Das Akademische Orchester spielt einen Satz aus einer Schumann-Sinfonie. Professor Udo Fries hält eine Vorlesung zur Corpuslinguistik als Werkzeug zur Beschreibung von Sprachvarianten. Sprache, das ist ein Medium, das Jakob Zollinger ein Leben lang geliebt, gepflegt und genutzt hat: Neben wissenschaftlichen Aufsätzen und Büchern hat er Abertausende von Tagebuchseiten und Zeitungsartikeln damit gestaltet, immer um eine präzise und anschauliche Ausdrucksweise bemüht.
Jetzt hält Rektor Hans Weder das Mikrofon in der Hand. Er hebt zu einer zehnminütigen Eloge auf Ernst Buschor an, den abtretenden Bildungsdirektor des Kantons Zürich. Jakob Zollinger spürt ein Würgen im Hals. Das ist schwere Kost am Tag, an dem er in wenigen Minuten den Ehrendoktortitel der Universität Zürich erhalten wird: Ausgerechnet Ernst Buschor, der Künder von moderner Schule und New Public Management, der ihm die letzten Jahre in seinem Lehrerberuf so vergällt hat, wird da geehrt. Von Autonomie, Flexibilität, flacher Hierarchie spricht der Rektor, von einer etablierten neuen Diskussionskultur. «Er [Buschor] hat uns auf die Finger und zu uns geschaut», sagt Weder. Den ersten Teil des Satzes würde Ex-Primarlehrer Zollinger unterschreiben, den zweiten eher nicht. Eigentlich hat Jakob Zollinger den Erziehungsdirektor Buschor nicht mehr als aktiver Lehrer erlebt. Zollinger quittierte den Schuldienst 1993, Ernst Buschor wurde erst 1995 Erziehungsdirektor. Aber der Professor aus der St. Galler Wirtschaftsschmiede hatte schon als Finanzdirektor seine politische Wirkung entfaltet. Doch dann ist es überstanden: Ernst Buschor ist jetzt ständiger Ehrengast der Universität Zürich, Jakob Zollinger dagegen nur Gast an diesem einen Tag. Ihre Wege werden sich also wohl kaum so bald wieder kreuzen.
Acht neue Ehrendoktoren ernennen die verschiedenen Fakultäten an diesem Samstagmorgen Ende April 2003. Jakob Zollinger kommt als Letzter an die Reihe, nach der Galeristin und Kunstsammlerin Angela Rosengart aus Luzern und dem Musikforscher Ludwig Finscher aus Wolfenbüttel. Ernst und ruhig hört er sich die ehrenden Worte von Dekan Franz Zelger an:
«Die Philosophische Fakultät der Universität Zürich verleiht eine Ehrenpromotion an Herrn Jakob Zollinger. Herr Zollinger, Primarlehrer im Ruhestand, hat als Erforscher und Vermittler der Regionalkultur des Zürcher Oberlandes nicht nur in der Öffentlichkeit allgemein, sondern auch wissenschaftlich vielseitige Anerkennung und hohe Wertschätzung gefunden. Einen Schwerpunkt seiner bis heute weitergeführten Forschungstätigkeit bildet das Bauernhaus. Der kürzlich erschienene Band Die Bauernhäuser des Kantons Zürich: Das Zürcher Oberland wäre ohne seine jahrzehntelange Erhebungsund Deutungsarbeit nicht möglich gewesen. Verschiedene historisch bedeutsame Bauten im Zürcher Oberland sind auf Jakob Zollingers Initiative hin vor dem Abbruch bewahrt worden. Einen zweiten Bereich in Herrn Zollingers Wirken bilden seine Untersuchungen der Hochmoore im Zürcher Oberland, vor allem im Hinblick auf die Geschichte ihrer Nutzung und ihrer Integration in den Siedlungsund Wirtschaftsraum. Das Buch Zürcher Oberländer Urlandschaft – eine Natur- und Kulturgeschichte enthält auch bemerkenswerte Beiträge zur Erforschung der Orts- und Flurnamen. Die Verbindung verschiedener akademischer Disziplinen ergibt sich für Jakob Zollinger aus der Wahl seiner regionalen Themen. So öffnet sein Buch über Leben und Werk von Jakob Stutz auch den Zugang zur Erzählforschung. Herrn Zollingers Arbeiten sind wesentlich mitgeprägt durch seine gestalterischen Fähigkeiten. Hunderte von Zeichnungen ergänzen in minutiöser Darstellungstechnik seine Dokumentationen, und viele davon illustrieren seine Bücher und Zeitungsartikel in genauer Abstimmung von Bild und Text. Jakob Zollingers Wirken als Lehrer und Forscher kann schliesslich sowohl als fruchtbare Verbindung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft als auch als exemplarischer Beitrag zum Dialog zwischen Universität und Region gewürdigt werden.»
Zwei Ehrendoktorinnen und sechs Ehrendoktoren ernennt die Universität Zürich 2003. Rektor Hans Weder steht in der Mitte, Jakob Zollinger in der ersten Reihe ganz rechts.
Erst beim Händedruck lächelt er und geniesst den tosenden Applaus des Publikums. Dann geht Jakob Zollinger – die grosse Rolle mit der Urkunde unter dem Arm – an seinen Platz zurück. Dvořáks «Slawischer Tanz», interpretiert vom Pianisten Oliver Schnyder, beendet den formellen Teil des Anlasses. Jetzt wechselt die Gesellschaft in den grossen Lichthof zum Bankett für gut 500 Gäste. Die frisch dekorierten Ehrendoktoren haben sich schon vor dem Festakt im Irchelpark mit Rektor Weder für die Presse ablichten lassen. Beim Bankett folgt auf marinierte Antipasti mit Spargelspitzen, grünem Olivenöl und Rosenessig ein Schweinskarreebraten mit Bärlauchfüllung, neuen Kartoffeln und Frühlingsgemüse.