Für die Bewältigung der zweiten Herausforderung, der innerkirchlichen Pluralisierung, ist ein Blick in die Kirchengeschichte nützlich. Es zeigt sich dann sehr schnell, dass innerkirchliche Pluralität keine Erfahrung neueren Datums ist. Aber mit dem Zweiten Vatikanum und mit der Pastoralkonstitution von Gaudium et spes und der dogmatischen Konstitution von Lumen gentium liegt der Kirche ein Entwurf vor, wie Pluralität gestaltet werden kann. In Lumen gentium wird Kirche von der Berufung aller Menschen durch Gott in Christus her entwickelt und verstanden. Kirche wird von ihren Mitgliedern her verstanden und zeigt sich somit als plurale Gegebenheit. In Gaudium et spes erkennt und benennt die Kirche die Chance und Notwendigkeit, von den Zeichen der Zeit her sich selber immer wieder neu zu entdecken. Der/die Einzelne und die Gesellschaft sind Orte der Theologie und damit wird die Pluralität zum Fundament und zum Prüfstein der Kirche selber (vgl. Bucher 1999, 99 f.).
Die Kirche steht in der Differenz von innen und außen, von inhaltlichen Ansprüchen und gravierenden ökonomischen Engpässen, von den eigenen Glaubenssätzen und einer zunehmenden Tendenz der eigenen Mitglieder, sich über diese hinwegzusetzen und individuelle Neuarrangements des Religiösen und Spirituellen zu entwickeln (vgl. Höhn 2004, 16). Diese Differenzen sind eine massive Anfrage und Herausforderung, denen die Kirche nicht ausweichen kann. Sie muss sich diesen Differenzen stellen, denn nur so besteht die Möglichkeit, glaubwürdige und taugliche Antworten für die Menschen in der Welt von heute zu finden.
Das Problem der Differenzen stellt sich nicht nur für die Kirche allein, sondern auch für ihre Mitglieder. Auch von ihnen verlangt die Situation, dass sie sich zu den Differenzen in der Welt von heute und in der Kirche in Beziehung setzen, und in besonderer Weise gilt dies vielleicht für die Frauen. Dabei hat es den Anschein, als würde gerade die Gruppe der Frauen auf die Ambivalenzen ihrer Biografien und die Differenzen, in die sie sich gestellt sehen, mit einem besonderen Bedürfnis nach Spiritualität reagieren. An ganz unterschiedlichen Orten kommen Frauen zusammen, um miteinander Liturgien und Rituale zu feiern. Sind sie ein Ausdruck von Pluralität und tatsächlich eine Reaktion auf die bedrängenden Ambivalenzen und Differenzen? Was suchen und entwickeln Frauen an diesen Orten? Wie werden diese von der institutionellen Seite der Kirche wahrgenommen? Wo finden sie Unterstützung? Wo wird ihnen mehr als nur Befremden entgegengebracht? Und wie beziehen sich die Frauen auf die Kirche und ihre traditionellen Formen der Glaubensfeier und der Inhalte des Glaubens? Diesen Fragen muss man sich stellen, wenn man verstehen will, was die Frauen bewegt, und zugleich davon ausgeht, dass ihre Praxis nicht nur für die Frauen einen Sinn hat, sondern auch für die Kirche von Bedeutung ist. Im Rahmen dieser Arbeit sind diese Fragen zentral. Sie soll eine Antwort auf diese Fragen bieten und zugleich einen Weg aufzeichnen, wie mit Pluralitäten und Differenzen in einer produktiven Art und Weise umgegangen werden kann.
Bevor Frauen an unterschiedlichen Orten und aus sehr verschiedenen Kontexten zu Wort kommen, sollen hier zunächst zwei Blitzlichter vorgestellt werden, die den Rahmen weiter erhellen. Diese Blitzlichter legen den Schluss nahe, dass es sich bei der Frage nach dem Umgang mit der Pluralität in der Kirche und unter den Frauen um eine Herausforderung handelt, die sich nicht nur in Deutschland stellt, sondern auch in einem ganz anderen gesellschaftlichen Kontext, und exemplarisch sei hier auf den Kontext Brasilien verwiesen. Die Bezugnahme zu Brasilien hat eine biografische Begründung. Ich habe nach dem Abitur ein sozial-pastorales Jahrespraktikum in Brasilien absolviert und im Rahmen des Theologiestudiums auch ein Auslandssemester in São Paulo absolviert. In einer Millionenstadt in Brasilien treffen sich im großen Saal einer Ordensgemeinschaft ca. 30 Frauen. Sie tun dies regelmäßig. Sie kommen an einem Sonntag zusammen, um miteinander eine Frauenliturgie zu feiern. Eine Gruppe von Frauen hat die Liturgie vorbereitet, das Thema gewählt, den Raum, die Mitte gestaltet. Eine Ordensfrau, die diese Gruppe ins Leben rief und seither begleitet, sorgt für Absprachen und Koordination mit der Ordensgemeinschaft und unterstützt die Frauen, wo immer sie Hilfe benötigen. Die Frauen, die kommen, nehmen zum Teil einen langen Anfahrtsweg in Kauf, um dabei zu sein. Der feste Kern der Gruppe trifft sich nun schon seit mehreren Jahren.
Auch in einer Kleinstadt in Deutschland treffen sich einmal im Monat Frauen, um Frauenliturgie zu feiern. Zwei Frauen haben die Liturgie vorbereitet. Sie haben das Thema gewählt, den Ablauf durchdacht, den Raum gestaltet. Es sind in der Regel 12 bis 15 Frauen, die an diesen Abenden zusammenkommen. Die Gruppe wurde von einer Gemeindereferentin initiiert und seither begleitet sie die Frauen. Auch hier hat sich ein fester Kern herausgebildet, der sich schon über viele Jahre hinweg trifft.
Beiden Gruppen ist gemeinsam, dass die Frauen aus ungleichen Bezügen kommen und dass sie unterschiedlich alt sind. In der brasilianischen Gruppe sind alle Frauen katholisch, in der deutschen Gruppe fast alle, wenige sind evangelisch. Einige der Frauen sind in ihren Pfarrgemeinden aktiv. Sie alle sind sehr verschieden und doch gibt es eine entscheidende Gemeinsamkeit: den Wunsch, im Glauben das Leben zu feiern, sich mit religiösen Traditionen und Formen auseinanderzusetzen und dafür eigene, neue Formen zu entwickeln. Sie denken sich rituelle Handlungen vor dem Hintergrund ihrer konkreten Lebenserfahrungen aus, ganz konkret im geschützten Raum einer Gruppe von Frauen. Viele tausend Kilometer, ganz andere kulturelle, wirtschaftliche und soziale Hintergründe trennen die Frauen und doch sind ihre spirituellen Sehnsüchte so ähnlich. Alle diese Frauen suchen ihren spirituellen Ort und wollen ihn selbst gestalten. Sie tun dies selbstbewusst und entschieden, manchmal auch in bewusster Abgrenzung zur Kirche und deren spirituellen Formen und Angeboten.
Diese Blitzlichter sowie weitere Facetten und Orte werden im Verlauf der Arbeit noch sehr viel deutlicher in den Blick genommen und analysiert. Aber diese Orte sind allesamt signifikant in ihrer Bedeutung für das, was Kirche ist und wie sie wahrgenommen wird. Sie zeigen an, wie es um den einen oder anderen Ort bestellt ist, an dem Menschen zusammenkommen, um liturgische Feiern miteinander zu gestalten und zu erleben. Damit geben sie unmittelbar Auskunft über einen zentralen Bereich von persönlicher Glaubenspraxis und Kirche. Die Beispiele sprechen beim genaueren Hinsehen eine sehr deutliche Sprache in Bezug auf Liturgien, denn sie sagen alle auf die eine oder andere Art, dass die Liturgien ein Lebensmittel sind, das Menschen brauchen, um gut leben zu können. Dem Anschein nach gibt es bei Frauen diesbezüglich ein besonderes Interesse; die Frauen, die in dieser Arbeit zu Wort kommen, suchen nach neuen, nach anderen Orten in Form und Inhalt als die „gewöhnliche“ Liturgie. Es sind Frauen, denen die Nahrung in den gewohnten Strukturen und Formen nicht mehr ausreicht, denen sie sogar manchmal unbekömmlich ist. Sie suchen nach Orten, an denen sie belebende Nahrung bekommen, weil sie wissen, dass sie sie brauchen, um wirklich leben zu können. Auch die Kirche braucht solche Orte, weil sie ein lebendiger Organismus ist. Jedes Lebewesen braucht Nahrung, um am Leben zu bleiben. Das Nahrungsmittel der Kirche ist die Liturgie (vgl. Wustmans 22005a, 238–254). Und in der Liturgie geht es dabei um nichts Geringeres als um Gott selber.
Der Wunsch von Frauen nach einem eigenen Ausdruck ihrer Spiritualität und Religiosität ist nicht neu. Diese Sehnsucht ist so alt wie die Kirche. Dies zeigen die Ordensgemeinschaften von Frauen in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit, aber z. B. auch die weibliche Mystik. Auf diesem langen Weg standen und stehen Frauen immer wieder vor der Frage, wie sie das Eigene entwickeln, ins Wort bringen können und wie sie sich zugleich auf den Ort beziehen, der ihre Herkunft markiert – die katholische Kirche. Allerdings gibt es einen auffälligen Unterschied zwischen den vorausgegangenen Bestrebungen von Frauen nach weiblicher Spiritualität und Religiosität und den heutigen Formen; denn diese sind nur noch punktuell an kirchliche Kontexte gebunden. Ordensgemeinschaften von Frauen sind ein Ort weiblicher Spiritualität, aber es gibt viele weitere Orte, die für sich Autorität