Balancieren statt ausschließen. Hildegard Wustmans. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hildegard Wustmans
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429060312
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unaufhaltsamen Prozess (vgl. Bucher 1999, 93; Kaufmann 1979; Gabriel 31994). Inzwischen besteht auch in jenen Bereichen eine Wahlmöglichkeit, wo religiöse Normen die Wahl immer zu verhindern suchten. Es gibt zwar nach wie vor die Vorgaben der Institution, aber diese stehen „unter dem permanenten Zustimmungsvorbehalt ihrer eigenen Mitglieder. […] Auch der Katholik und die Katholikin haben heute die Möglichkeit, sich ihre eigenen Muster der Lebensführung, der Weltbetrachtung und der religiösen Weltwahrnehmung selbst zusammenzustellen – und das mehr oder weniger sanktionsfrei“ (Bucher 2004c, 19). Zudem haben die Kirchen längst nicht mehr das Monopol im Bereich des Religiösen (vgl. Gabriel 31994, 142–156). Immer mehr verlassen die Kirchen oder sie stellen sich aus einer Vielzahl von religiösen Werten und Formen ihre ganz private Religion zusammen. Menschen definieren für sich ganz persönlich, woran sie glauben und worauf sie hoffen. „Es gibt mehr Protestanten und Katholiken, die an Schutzengel glauben (56 beziehungsweise 66 Prozent) als an die göttliche Dreifaltigkeit (23 beziehungsweise 45 Prozent) und daran, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist (43 beziehungsweise 60 Prozent) – so das Ergebnis einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (1997). Nur Minderheiten der Kirchenmitglieder akzeptieren den Glauben an die Auferstehung der Toten (Protestanten: 29; Katholiken: 49 Prozent), an das Jüngste Gericht (Protestanten: 18; Katholiken: 36 Prozent), und ‚dass es eine Hölle gibt‘ (Protestanten: 16, Katholiken: 29 Prozent). Gerade im Zusammenhang mit solchen ‚letzten Dingen‘ kehrt sich inzwischen sogar der gängige statistische Erfahrungssatz ‚Je älter, desto frömmer‘ um. Nach einer Umfrage des Markt-und Meinungsforschungsinstituts Emnid aus dem Jahre 1997 finden Glaubensaussagen, ‚dass meine Seele in irgendeiner Form weiterlebt‘, bei den über 60-Jährigen mit 50 Prozent weniger Zustimmung als bei den 14- bis 29-Jährigen (mit 56 Prozent) und bei den 30- bis 39-Jährigen (mit 60 Prozent). Die Aussage ‚Es gibt ein Leben nach dem Tod‘ wird nur noch von einem guten Drittel (36 Prozent) der über 60-Jährigen akzeptiert und stößt bei 59 Prozent dieser Altersklasse auf Ablehnung, während diese Überzeugung von mehr als der Hälfte der jüngsten Befragtengruppe geteilt wird. Von diesen sagen 41 Prozent: ‚Mit dem Tod ist alles aus‘, unter den 60-Jährigen und Älteren stimmen sogar knapp zwei Drittel (61 Prozent) dieser Aussage zu. Von beträchtlichen Teilen der älteren Generationen werden somit die auf das Jenseits und die Endzeit gerichteten Glaubensüberzeugungen stark in Zweifel gezogen. […] Es nehmen zu: die rituelle Abweichung der Kirchenmitglieder in Glaubenshandlungen, die von den Kirchen erwartet werden, die Abwehr von Glaubensvorstellungen, die als zentral definiert werden (Gottesbild, Lehre von der Auferstehung und vom ewigen Leben), und ‚Synkretismusbildungen‘, das heißt persönliche Kombinationen von christlichen und anderen religiösen Wertvorstellungen. Solche ‚Glaubenskomponisten‘ bilden inzwischen mit 47 Prozent die Mehrheit der europäischen Bevölkerung“ (Ebertz 2003, 23 f.; vgl. ders. 1998; ders. 1997).

      Dies spricht für eine Umgestaltung des Religiösen (vgl. Kaufmann 1991, 269). Dabei sind die Ambivalenzerfahrungen im Leben von Menschen auch heute noch religionsproduktiv (vgl. Zulehner 1999, 95). Menschen suchen auch heute noch Halt und Sinn und sie greifen dort zu, wo ihnen die Angebote für den Moment plausibel und hilfreich zu sein scheinen (vgl. Först/Kügler 2010). Ändern sich die Umstände, dann kann sich auch der Bereich des Religiösen ändern. Religion ist somit nicht aus der Gesellschaft verschwunden, aber sie ist immer weniger kirchlich eingebunden und verwaltet (vgl. Ebertz 2003, 65). Zugleich spielt sich der religiöse Pluralismus eben auch unter dem eigenen kirchlichen Dach ab (vgl. Gabriel 2009, 121). Darüber hinaus zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass sich der Wahrnehmungshorizont in Sachen Religion immer mehr auf das eigene Ich verlagert. Es geht im Kontext des Religiösen um Selbstfindung, Selbsterfahrung, Selbstvergewisserung und um die Intensivierung des eigenen Lebens, der eigenen Existenz, um Erlebnisverdichtung und um ungestillte Sehnsüchte und Erfahrungen. Diese Erwartungen werden auch von einigen Interviewpartnerinnen deutlich in Gesprächen benannt. Im Kontext der Auseinandersetzung mit Spiritualität und in den unterschiedlichen Frauenliturgiegruppen ist Selbsterfahrung ein wichtiger Punkt (vgl. Kapitel 3).

      Religion zeigt sich in neuem Gewand an ganz unterschiedlichen Orten und säkulare Orte und Ereignisse treten als neue Anbieter hinzu. Dies führt zu der Konsequenz, dass die Bedeutung des Religiösen im Leben von Menschen und in der Gesellschaft längst nicht mehr eindeutig zu benennen ist. „Es kommt zu einer Mehrfachbewegung im Felde des Religiösen. Religiöse Versteppung, etwa in den neuen Bundesländern, kirchlich verwaltete traditionelle Religiosität und die Renaissance einer sehr individuell gestrickten, auf das eigene Ich bezogenen und von ihm her entworfenen, nichtsdestoweniger sehr ernsthaften Religiosität koexistieren – und dies beileibe nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Individuum und eben wohl auch im Katholizismus“ (Bucher 1999, 97).

      Auf diese Entwicklungen hat die Kirche bislang nur unzureichend reagiert. Zum einen hat sie seit den 70er Jahren versucht, mit einer enormen Professionalisierung und Pluralisierung ihrer Angebote verlorenes Terrain gutzumachen. „Man weitete den nicht-klerikalen Teil des kirchlichen Personals bedeutend aus und besetzte viele Stellen mit hauptamtlich tätigen, zunehmend auch professionell qualifizierten und professionell entlohnten Personen. Wesentliche Teile des von der Kirche beschäftigten Personals, etwa in den Bereichen Diakonie, Aus- und Weiterbildung, Erwachsenenbildung oder auch Religionsunterricht, werden in Deutschland und Österreich von professionell ausgebildeten Laien gestellt“ (Bucher 2001, 268). Die Rolle des Pfarrers, der sich als Hirte um alle Belange seiner Herde kümmert, wurde durch den neuen Typ des Hauptamtlichen ausdifferenziert. Kirchliches Handeln geschieht heute eben nicht mehr nur in den Pfarreien, sondern in Schulen, Beratungsstellen, sozialen Einrichtungen, Betrieben, Krankenhäusern usw. durch hauptamtliche pastorale Mitarbeiter/-innen. Die Kirche hat in diesem Bereich die Pluralität aus ihrem Außen in ihr Innen getragen. Jedoch zeigt die Praxis inzwischen, dass oftmals die einzelnen Bereiche wenig oder nichts voneinander wissen. Vielfach gibt es keinen Austausch zwischen den einzelnen Systemen und im schlimmsten Fall machen sie sich gegenseitig Konkurrenz (vgl. Bucher 2004b, 114).

      Die Lage ist prekär und zunehmend wird deutlich, dass die katholische Kirche im deutschsprachigen Kontext eben auch mit dem Abstieg ihrer altbewährten Sozialformatierungen zurechtkommen muss. Besonders die Pfarrgemeinden stehen massiv unter Druck. Es fehlt an Priestern und auch die Aktiven kommen ihnen mehr und mehr abhanden. Zudem sind sie davon gekennzeichnet, dass sie viele Milieus überhaupt nicht erreichen (vgl. Wippermann/De Magalhaes 2005; Ebertz/Wunder 2009).

      Hervorstechend ist in diesem Zusammenhang das fast überall mehr oder minder gleiche Lösungsmuster: Es werden Pastoral- und Personalpläne entwickelt, die die Versorgung von immer weniger Gläubigen bei gleichzeitigem Priestermangel gewährleisten sollen. Diese Versorgung ist im Grunde an nur einer Größe ausgerichtet und diese nimmt im deutschsprachigen Bereich merklich ab: dem Priester (vgl. Sellmann 2010, 1010). Gerade diese Problemlösungsstrategie steht für ein Prinzip, das im Modus des Status quo handelt.

      Ein weiteres Problem von nicht minderer Tragweite ist der Rückgang der finanziellen Mittel. In besonders drastischer Weise wurde dies bereits in den Bistümern Aachen und Essen erlebt. Aber nahezu alle Bistümer haben mehr oder weniger drastische Sparpakete geschnürt. Vor allem durch Personalabbau und Kürzungen in der Seelsorge, im Kindergartenbereich und der Verwaltung sowie durch Reduzierungen des Gebäudebestandes sollen die Haushalte wieder ausgeglichen werden. In den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat man noch von reichlich fließenden Kirchensteuermitteln profitiert und in diesem Zusammenhang wurden viele Einrichtungen und Stellen geschaffen, was sich die Kirche heute nicht mehr leisten kann. Einrichtungen, die in den sogenannten fetten Jahren gegründet wurden, erscheinen heute als Luxus, den man sich nicht mehr leisten kann oder will. Mit den Sparmaßnahmen werden somit unweigerlich auch Einschnitte in die inhaltliche und pastorale Arbeit vorgenommen. Für so manchen Kürzungsbeschluss werden keine inhaltlichen Begründungen geliefert, sondern es wird mit der prekären Finanzlage argumentiert. Diese Entwicklung ist mindestens so heikel wie die finanzielle Situation so mancher Diözese.

      Die Krisenphänomene zeigen, dass die Kirche in Deutschland in der gesellschaftlichen Realität angekommen ist. Was sich in anderen Bereichen der Gesellschaft schon längst abgezeichnet hat und eingetroffen ist, greift nun auch in ihr Raum und stellt sie vor besondere Herausforderungen, die sich zum einen im Feld der finanziellen