Der geheimnisvolle Leib Christi der irdischen Kirche darf und kann als geistliche Gemeinschaft aus seinem Wesen heraus nicht auf einen gesunden Leib und auf gesunde hierarchische Organe verzichten; diese machen die stets auf ihrem missionarischen Weg pilgernde Kirche sowohl nach innen als auch nach außen hin erkenntlich und sichtbar. Wenn immer und wo immer die gottgewollte „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aus dem Gleichgewicht zu geraten droht, ist sie entweder mit der Illusion einer welt- und somit menschenfremden Esoterik oder aber mit der oft knallharten Versuchung eines wirtschaftlichen Utilitarismus, der ohne Gott auszukommen scheint, konfrontiert.
Es wundert nicht, dass die Konzilsväter diesem Artikel – verkürzt gesagt – über Leib und Seele Worte über die Vernunft des Menschen und „deren Vollendung in der Weisheit“ (GS 15) folgen lassen, geht es doch um einen Gedanken, der dem US-amerikanischen protestantischen Pastor Reinhold Niebuhr zugesprochen wird: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden“.27 Im letzten geht es in diesem „Gelassenheitsgebet“ mit dem Blick auf die Kirche und ihre göttlichmenschliche Bedingtheit darum, das Göttliche in ihr in Demut hinzunehmen, das Menschliche immer wieder mit Mut und ohne Angst auf seine zeitliche und räumliche Gültigkeit hin zu überprüfen, „und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Das Konzil würdigt die Vernunft des Menschen, in der er „in Teilnahme am Licht des göttlichen Geistes […] die Dingwelt überragt“ und schätzt die menschliche Entwicklung in den empirischen Wissenschaften, der Technik und der geistigen und künstlerischen Bildung (LG 15). Es mag verwundern, dass die Kirche diesen Konzilsgeist bis heute eher selektiv rezipiert hat. So akzeptiert sie ohne weiteres die Erkenntnis der modernen Medizin- und Kommunikationstechnik, solange sie ihren eigenen ethischen Normen nicht entgegenlaufen, verweigert sich jedoch offensichtlich den Fortschritten mancher anderer Wissensgebiete wie etwa des operativen oder strategischen Finanz-Controllings und der Wirtschafts- oder Organisationswissenschaften. Die Würde der menschlichen Vernunft kann auch eine vertiefte Wahrheit ergründen, auch dann, wenn sie aus menschlichem Fehlverhalten teilweise verdunkelt und geschwächt ist (LG 15).
Ihre Vollendung findet die Vernunftnatur der menschlichen Person in der Weisheit. Der Menschenglaube bezeugt schon im Alten Testament, dass alle Weisheit vom Herrn stammt und auch ewig bei ihm ist; auch lehrt Erfahrung, dass Gott seine Weisheit über all seine Werke ausgegossen hat, sie den Menschen jedoch unterschiedlich zugeteilt ist: „Er [der Herr] spendet sie denen, die ihn fürchten“ (Sir 1,10). Auch in Gaudium et spes stellt das Konzil klar, dass die Verteilung der Weisheit in dieser Welt nicht mit der wirtschaftlichen Situation korrelieren muss; oft seien verhältnismäßig arme Nationen reicher an Weisheit als vermögende (GS 15). Die Erfahrung des Lebens bestätigt, dass diese Aussage der Synodalen ohne Abkürzung auf die menschliche Person wie auch auf eine soziale oder wirtschaftliche Institution übertragen werden kann. So mag die Weisheit und somit das Überlebenspotential eines kurzfristig finanziell prosperierenden Konzerns bisweilen dürftiger sein als die Weisheit einer kleinen Organisation, die langfristig und damit nachhaltig denkt und handelt.
Bevor die Konzilsväter in der Pastoralkonstitution auf den Atheismus im Allgemeinen und im Besonderen zu sprechen kommen, fokussieren sie noch die Würde des sittlichen Gewissens (GS 16) und die hohe Bedeutung der menschlichen Freiheit (GS 17). In Bezug auf die organisationskulturellen Fragestellungen dieser Arbeit spielen sowohl sittliches Gewissen als auch menschliche Freiheit im Zusammenleben und gemeinsamen zielgerichteten Handeln einer Organisation eine essentielle Rolle. Gewissen muss sich (weiter)bilden, will es nicht irregehen oder abstumpfen. Und mit einem solchen gebildeten Gewissen vermag der Christ eine Brücke bauen zum Gewissen anderer Menschen, die zwar Christus nicht (an)erkennen, aber ihrer inneren Stimme gehorchen, die ihnen mitteilt, das Gute zu tun und das Böse zu unterlassen. Eine solche Prämisse genügt oft in einer menschlichen Organisation als erster bewusster Schritt, divergierende Meinungen ins Lot zu bringen. So wie die menschliche Person kann auch eine Organisation mit einem abgestumpften Gewissen ihre Würde verlieren, was nicht selten in blinder Willkür endet (GS 16). Die Vorausbedingung des Hinwendens des Menschen zum Guten ist seine von Gott gewollte Freiheit, die damit zur unabdingbaren Würde seiner selbst wird. Blinden inneren Drang oder bloßen äußeren Drang zu einem gewissen Handeln bezeichnen die Konzilsväter als einer Person unwürdig, gleichgültig ob sie Mitglied der Kirche ist oder nicht. So stellt sich auch in diesem wesentlichen Attribut menschlichen Lebens heute die Frage, wie viele Organisationen ihren Mitarbeitern oder Mitgliedern in einer bis in die kleinsten Details regulierten Arbeitsumwelt ihre persönliche Freiheit nicht nehmen. Diese Frage müssen sich auch die Kirche und die von ihr abhängigen Organisationen gefallen lassen.
Die von Gott initiierte und gewollte Würde des Menschen braucht ständiges Ringen (LG 48), nicht nur in der Welt, auch in der Kirche, die nicht mit ihr identisch ist, aber die Gestalt dieser Welt trägt, mahnte der steirische Caritasdirektor Franz Küberl im März 2015 in seinem Festvortrag bei der Verleihung des Menschenrechtspreises des Landes Steiermark ein. Er spricht von einer „‘Verwertung„ des Menschen auf allen Ebenen“ des heutigen Lebens im Gegensatz zu „seinen geistigen Werten, von der Freude an der Entwicklung des eigenen kreativen Potentials – vom Gesamtkunstwerk Mensch, dem vor allen Nutzungs- und Verwertungsstrategien Würde und Einzigartigkeit zukommt.“28 Schaffung und Wahrung von Gerechtigkeit, Menschenwürde und -rechten seien die Aufgaben der Staaten, für deren Gestaltung jeder einzelne Mensch mit verantwortlich ist.
Menschenwerte wie Glaubwürdigkeit, Toleranz, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Dienst am Nächsten, Würde und Rechte aller Menschen sind jedoch nicht auf die systemisch-gesellschaftliche Ebene begrenzt, sondern erheben auf- und absteigenden kaskadenförmigen Anspruch genauso auf politische, soziale und kirchliche Organisationen und somit auf den einzelnen Menschen als Person. Konflikte entstehen dort, wo menschliche Werte auf einer dieser Ebenen mit Füßen getreten werden, das mag die persönliche Wertedimension tangieren, aber auch die institutionell-organisatorische und die gesamte gesellschaftliche Kultur.
Erst im letzten Artikel des ersten Kapitels der Pastoralkonstitution kommen die Konzilsväter auf Christus, den neuen Menschen zu sprechen, „in dem allein ‚sich das Geheimnis des Menschen wahrhaft aufklärt„ (GS 22), freilich in das Geheimnis Gottes hinein.“29 Das verlangt von jedem einzelnen Christen und jedem menschlichen Kollektiv, das sich christlich nennt, die unbedingte Nachfolge Christi.
1.5.3 Pastoral-biblische Arbeitsinitiativen
Wie und auf welche Weise die Kirche Jesu Christi als Communio auf ihrem Pilgerweg ans Ziel gelangt, d.h. auf welchen Glaubenswerten und Wertvorstellungen sie dahinschreitet und welche Denk-, Verhaltens- und Handlungsweisen sie daraus adaptiert, kann nicht ohne Konsultation des Lebens Jesu geschehen, das von authentischen Zeugen im Neuen Testament tradiert wird.
„Jesus