Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist die wissenschaftliche Aufbereitung der kirchlichen Organisationskultur und des möglichen kirchlichen Organisationswandels (Culture Change)6, nicht jedoch der kirchlichen Organisationsstrategien und der Organisationsstrukturen, wenn diese auch von der Organisationskultur maßgeblich beeinflusst werden und somit nicht völlig von der kulturellen Dimension einer Organisation oder Institution separiert betrachtet werden können.7 Dem analytischen Teil dieser Überlegungen, vor allem dem Kapitel 5, das das kirchliche Kulturprofil generell betrachtet, wird die Kirche als die von Jesus gewollte Communio aller Getauften zugrunde gelegt, während sich der empirische Teil im Kapitel 6 aus praktischen Gründen eine Grenze setzen muss, kirchliche Organisationskultur also am Beispiel eines bestimmten ortskirchlichen Samples beschreiben wird.
1.1.2 Forschungsstatus
Im Bereich der Ökonomie und des Managements ist die Thematik der Unternehmenskultur gemeinsam mit der Unternehmensstrategie und Unternehmensstruktur in den letzten Jahrzehnten aus Gründen eines Wandels der sozioökonomischen Lebensbedingungen und, damit zusammenhängend, mit einem umfassenden Wandel der Wirklichkeit (vgl. GS 5) intensiv analysiert und in wissenschaftlichen Publikationen dargestellt worden.
In der Kirche und ihren zugeordneten kirchlichen Bereichen ist das Thema der Organisationskultur bis dato eher selektiv behandelt, jedoch nicht ganzheitlich wissenschaftlich aufgearbeitet worden. Einen nicht zu übersehenden Bereich bilden die vielen Leitbilder von Diözesen, Ordensgemeinschaften, Laienverbänden, kirchlich-karitativen Organisationen und Bildungsinstitutionen, aus denen zumindest theoretische Rückschlüsse auf die jeweilige Kultur der Organisation gezogen werden können. Auch die weit gestreute Literatur über christliche Lebensspiritualität berührt immer wieder, eher indirekt, die Art und Weise, wie Glaubende gemeinsam auf das eine Ziel hinarbeiten und hinleben, wie Organisationskultur einmal flüchtig umschrieben werden mag, jedoch fehlt eine ganzheitliche Sicht, auch eine solche im Blickwinkel von Organisationsstrategie und -struktur.
Zweifellos sind Überlegungen im Bereich administrativ kirchlicher Tätigkeiten leichter zu artikulieren als in pastoralen Belangen, was jedoch nicht bedeuten kann, dass beispielsweise Fragen der Steuerung, der Kommunikation oder der Leistung in der pastoralen Arbeit keine Rolle spielten.
1.1.3 Forschungsfragen
Die sorgende Frage nach der Erneuerung der Kirche und ihrer pastoralen Aufgabe, ob von bewahrenden, restaurativen oder visionsgetragenen Kräften gestellt, mündet heute vielfach sofort in eine Diskussion, bestenfalls in einen Dialog, der sich auf strukturelle Gestaltungsmöglichkeiten kirchlicher Arbeit konzentriert. Eine solche Bedingung der Möglichkeit nach der Frage, welche Strukturen für die Kirche im 21. Jahrhundert relevant sind, um ans gemeinsame Ziel zu gelangen, ist dem Grundsatz nach nicht zu verleugnen. Allerdings wird der Fokus auf Strukturen sehr schnell in eine von reinem Aktivismus getragene Sackgasse münden, wenn dazu nicht parallel Fragen nach dem „Wie“ gestellt werden: Welchen Weg hat Jesus in seinem irdischen Leben als ganzer Gott und ganzer Mensch (Phil 2,6-11) seiner Kirche vorgegeben? Wie wollen wir als Menschen, die nur wenig geringer geschaffen sind als ihr Schöpfer (Ps 8,6),
(1) hier, in unserer konkreten Pfarre und in einer kulturbedingten Ortskirche als Teil der universalen Kirche, und
(2) heute, am Beginn des dritten Jahrtausends nach Seinem Leben und Sterben, den gemeinsamen Weg zum Ziel hin gehen?
Wenn das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution über die Kirche in der Welt von heute davon überzeugt ist, dass „die von früheren Generationen überkommenen Institutionen, Gesetze, Denk- und Auffassungsweisen […] aber den wirklichen Zuständen von heute nicht mehr in jedem Fall gut zu entsprechen [scheinen]“ und es somit „zu schweren Störungen im Verhalten und sogar in den Verhaltensnormen [kommt]“ (GS 7), so muss die Frage gestellt werden, ob die irdische Kirche als die von Menschen getragene Versammlung – trotz ihres Beschenktseins mit himmlischen Gaben (LG 8) – sich aus dieser Erkenntnis ausschließen kann und darf. Die Konzilsväter verstehen die Kirche als eine „Kirche in der Welt von heute“ (GS 2). „Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen“ (GS 4). Dieser Anspruch für die konkrete Kirche in der konkreten Welt schließt von der Organisation her gesehen nicht nur deren Strukturen, sondern auch deren Kulturen und Subkulturen mit ein, deren Hinterfragung, Analyse und Herausforderung Anliegen und Grenze dieser Überlegungen sein sollen.
Basierend auf und inspiriert von langjähriger Erfahrung im Bereich der globalen Wirtschaft soll der geschärfte Blick mit vier Forschungsfragen auf die Organisationskultur der Kirche gerichtet werden:
(1) Weshalb ist es für die Kirche zunehmend wichtig, sich mit der Frage der Organisationskultur zu beschäftigen und in der Folge nach der richtigen Organisationskultur zu fragen? Die Kirche existiert nicht außerhalb der Welt, sie ist Teil dieser Welt und dennoch ist sie nicht diese Welt (vgl. GS 1).
(2) Was kann die Kirche – ohne ihre Gleichschaltung mit säkularen Unternehmen – von der Welt, d.h. von weltlichen sowohl profit-als auch sozial orientierten Unternehmen lernen? Hier wird die Kirche in pastoralen Dimensionen vor allem als lernende Organisation gesehen werden müssen.
(3) Worin liegen die Unterschiede zwischen weltlichen Unternehmen und der Kirche als Organisation, die den Menschen in seiner konkreten Welt als Subjekt und Objekt hat? Und welche sind die Gründe für diese Unterschiede? Diese vor allem pastoral-ekklesiologischen Fragen werden mit dem Blickwinkel auf die Weltkirche und die Ortskirchen zu überlegen und beantworten sein.
(4) Last, but not least: Gibt es eine Roadmap zu einer veränderten Organisationskultur der Kirche? Wie sieht es mit der Fähigkeit, der Bereitschaft und dem Willen zur Veränderung in der Kirche aus? Hat sie die notwendigen Ressourcen zum Wandel? Benötigt sie professionelle Begleitung? Oder genügt die Weihegnade, den Erneuerungsprozess effektiv zu gestalten und das Ziel effizient zu erreichen? Oder braucht eine Organisation wie die Kirche nicht auch persönliche, fachliche und Führungs-Kompetenzen, um ihrem Sendungsauftrag in dieser Welt effizient gerecht zu werden?8
1.2 Methodisches Vorgehen
Ausgehend von dem praktisch-theologischen Ansatz „Sehen – Urteilen – Handeln“ des Begründers der Katholischen Arbeiterjugend Joseph Kardinal Cardijn für seine pastoralen Dienste im Arbeitermilieu, zunächst in Belgien und Frankreich, nach dem II. Weltkrieg dann auch in ganz Europa, wurde dieser so genannte „Dreischritt“ dann auch von Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Mater et Magistra (1961) zur methodischen Umsetzung der katholischen Soziallehre aufgegriffen und empfohlen.9
Für die geplante Arbeit soll eine Weiterentwicklung dieser in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entstandene und pastoral bewährten Methodologie, nämlich der „Vierschritt“ angewandt werden, der dieselbe Logik enthält, aber das ursprüngliche Vorgehen verfeinert:10
(1) Der erste Schritt wird mit dem Begriff Orientierung umschrieben, der vor allem die Erfassung des pluralen Umfeldes, die Kontextualisierung, die Fokussierung auf das Ziel und die Verortung in der kirchlichen Tradition umschließt.
(2) Die Phase des Wahrnehmens, die am ehesten mit der Phase des Sehens im Dreischritt vergleichbar ist, geht allerdings über diese hinaus; denn mag das Sehen noch als neutraler Vorgang eingestuft werden, muss mit