a. In einer eher geschlossenen Organisationskultur werden solche Persönlichkeitstypen favorisiert, die Standpunkte und Kommunikationsstile in kirchlicher Linientreue signalisieren. Die Verwaltung der Organisation erhält einen höheren Stellenwert als ihr inneres Wachstum.
b. Andrerseits wird in Organisationen mit einem offenen Kommunikationsstil die Diversität von Mitarbeitern mit eigenen Meinungen und Überzeugungen gefördert; neue Mitarbeiter fühlen sich sehr schnell wohl, engagieren sich voll und begleiten die Organisation mit ihrer Kreativität und Innovation auf dem Weg in die Zukunft.
(5) Mit diesem Ansatz ist beabsichtigt, die Hypothese des Auseinanderklaffens von tatsächlicher und angestrebter Organisationskultur, das heißt der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit praktisch zu untermauern.
(6) Um der methodischen Vorgangsweise des „Vierschritts“ (Orientieren – Wahrnehmen – Bewerten – Handeln) gerecht zu werden müssen letztlich sowohl die Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft als auch die praktischen Umsetzungschancen in den pastoralen und administrativen Tätigkeitsbereichen der Kirche in Form einer möglichen Roadmap der Erneuerung angezeigt werden. Nach der begrifflichen Klärung und der praktisch-empirischen Diagnose geht es zuletzt um die kritische Frage, wie die Kirche als pilgerndes Volk Gottes mit den Erkenntnissen über Anspruch und Wirklichkeit des gemeinsamen Wegs durch Raum und Zeit umgeht.
Mit einem Resümee und einem Ausblick vor allem auf die vom derzeitigen Pontifikat initiierten Veränderungsprozesse sollen sowohl das ekklesiologische Bild der ecclesia semper reformanda als auch die pastoralen Praktiken einer ecclesia discens (einer lernenden Kirche) gefestigt werden.
1.5 Thematische Hinführung
Wie das korporative Volk Gottes, das heißt die Kirche als organisatorische Einheit in ihrer ganzen Komplexität, und das kollektive Volk Gottes, das heißt die Kirche als Kollektive der einzelnen Ortskirchen und ihrer individuellen Mitglieder ineinander greifen, miteinander umgehen und für einander da sind, wird schon in ihren ersten Anfängen sichtbar. Beim Apostelkonzil von Jerusalem (zwischen 44 und 49), der Zusammenkunft der Apostel der Jerusalemer Urgemeinde mit Paulus von Tarsos und seinen Begleitern, in der es letztlich um die Identität der Kirche Christi der Heiligen und die Gemeinden im jüdischen und griechischen Umfeld ging (Apg 15,1-35), wird die Spannung zwischen dem korporativen und dem kollektiven Ganzen der Kirche ihres einen Hauptes Jesus Christus sichtbar (Kol 1,18). Diese Aktualität hat sich durch zwei Jahrtausende hindurch nicht geändert, vor allem in den regionalen Synoden und den einundzwanzig ökumenischen Konzilien der katholischen Kirche. So hat die Diskussion um die Hermeneutik des Zweiten Vatikanums14 bis in die Gegenwart herauf zwischen restaurativen und „liberaleren“ Theologen Gräben aufgerissen, die die Kirche als korporatives und als kollektives Gottesvolk spaltet. Die einen, vor allem die „Massenmedien und auch ein […] Teil […] der modernen Theologie“, verteidigen die „Hermeneutik der Diskontinuität und des Bruches“, die anderen sprechen von einer „‚Hermeneutik der Reform‘, der Erneuerung des einen Subjekts Kirche, die der Herr uns geschenkt hat, unter Wahrung der Kontinuität“.15 Die Substanz bleibt unverändert, weil ihre Identität in ihrem Gründer wurzelt. Die Art und Weise der Erkenntnis, wie diese Substanz zu den Menschen in die konkrete Welt hineingetragen wird, ist jedoch sowohl räumlich als auch zeitlich kulturell bestimmt. Die Stärkung des kollektiven Aspekts des Volkes Gottes, vor allem durch die Betonung der Rolle des Bischofskollegiums und die Ermächtigung der „Laien“ aufgrund ihrer Taufe in der Kirchenkonstitution Lumen gentium, wird auch von der Festigung der Würde des Menschen und seiner Selbstbestätigung nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs begleitet und bedeutet einen organisationskulturellen Wandel, wie das ganze korporative Volk Gottes, durch Raum und Zeit wandernd, sein Ziel in Zukunft erreichen sollte. Allerdings erlebte diese im Frühchristentum verwurzelte und nun erneuerte Vision der Kirche in den Jahrzehnten nach dem Konzil bittere Enttäuschungen über das von den Konzilssynodalen Formulierte und das von der Kirchenbasis Erhoffte. Somit bleibt die Thematik der Organisationskultur der Kirche auch heute brennende Aktualität.
1.5.1 Praktisch-theologischer Ansatz
Mit dem Blick auf die eigentliche Thematik der Studie, nämlich der Organisationskultur, muss trotz des Bezugs auf die Kirche mit Recht nach ihrem theologischen Charakteristikum gefragt werden. Als „zugleich ‚sichtbare Versammlung und geistliche Gemeinschaft“‘ (LG 8; zitiert in GS 40) geht die Kirche „den Weg mit der ganzen Menschheit gemeinsam und erfährt das gleiche irdische Geschick mit der Welt und ist gewissermaßen der Sauerteig und die Seele der in Christus zu erneuernden und in die Familie Gottes umzugestaltenden menschlichen Gesellschaft“ (GS 40). Auch wenn die „sichtbare Versammlung“ der Kirche in dieser Arbeit mit organisationspsychologischen Konzepten analysiert und mit systemischen Prämissen verglichen werden soll, kann sie als „irdisches und himmlisches Gemeinwesen […] nur in dem Glauben begriffen werden“ (GS 40), dass es in ihr um den Weg aller Menschen zum Ziel der Vereinigung mit Gott geht, der sie zugleich trotz ihrer Sündhaftigkeit ohne Wenn und Aber auf ihrem Pilgerweg begleitet. Im jesuanischen Kontext des Neuen Bundes mündet die Frage nach der Kultur der Kirche in der bedingungslosen Nachfolge Christi, der ihr in ihrem „Ineinander des irdischen und himmlischen Gemeinwesens“ (GS 40) mit seiner Geburt, seinem Leben und Wirken, seinem Leiden, seinem Tod und seiner Auferweckung Beispiel und Anregung für ihre missionarische Sendung gegeben hat. Die Väter des Konzils sprechen im ersten Kapitel von Lumen gentium, der „Dogmatischen Konstitution über die Kirche“, vom Mysterium, dem Geheimnis der Kirche, an dessen Grenzen wir so lange stoßen, solange wir an unsere irdische Geschichtlichkeit gebunden sind.
Nach dem „Weltbild Gottes“, das die Rolle des Schöpfergottes und alles von ihm Geschaffene aufeinander bezieht, ist alles Irdische vergänglich, auch die „sichtbare Versammlung“ der Kirche. Der Vergänglichkeit kirchlicher Strukturen, auch wenn diese von Jesus selbst durch sein Leben hier auf Erden initiiert wurden, liegt zugleich die Bedingung ständigen Wandels zugrunde. Die ecclesia semper reformanda weist auf keinen Zu- oder Unfall hin, sondern auf das im Gottes- und Menschenbild verwurzelte Kirchenbild, das das 2. Vatikanische Konzil (wieder) sichtbar gemacht hat. Die menschliche Gesellschaft, die in der Kirche mit der Gnade Gottes aufs engste verwoben und von ihr befruchtet wird, unterliegt einer ständigen Umgestaltung; freilich nicht um ihrer selbst, sondern in Christus und um Christi willen (GS 40).
Das theologische Gerüst der vorliegenden Studie über die Kultur der Kirche wird auch in den Quellen jesuanischen Handelns und christlicher Werte deutlich, die dem Volk Gottes auf seiner Pilgerschaft durch Raum und Zeit Wegweiser und „den am Rand lebenden Völkern“ ein spiritueller Kompass sein sollten. Kultur basiert immer auf einem ererbten geistigen oder materiellen Gut, das dazu beitragen kann und soll, aus dem Wissen um erprobte Entscheidungen in der Vergangenheit Lösungen für zukünftige Lebenssituationen aktiv zu gestalten, nicht jedoch passiv, d.h. fraglos zu übernehmen.
Aktivitäten, die auf strukturelle Umgestaltungen kirchlicher Organisationseinheiten abzielen, mögen zwar Einfluss auf die Organisationskultur der Kirche oder kirchennaher Institutionen haben, werden allerdings nicht direkt Gegenstand dieser Untersuchungen sein. Im Kapitel 4 über organisationskulturelle Interdependenzen wird des Näheren auf die gegenseitige Beeinflussung bzw. das Zusammenspiel von Strategie, Struktur und Kultur einer Organisation eingegangen, die im Kern auch die Kirche betreffen. So griff die internationale Presse im November 2007 hastig die Meldung auf, dass Papst Benedikt XVI. ein Bonussystem für exzellente Leistung seiner vatikanischen Mitarbeiter sanktioniert hat. Eine Neugestaltung der Vergütungsstruktur zu verkünden ohne entsprechende Begleitmaßnahmen einer Effizienzsteigerung in der administrativen oder pastoralen (Mit-)Arbeit der vatikanischen Kurie anzudenken kann letztlich nur zu einer Verfestigung der althergebrachten Strukturen – allerdings mit erhöhten Kosten – führen.16
Auch die interne Redaktion pastoraler Leitbilder für Diözesen, Ordinariate, Ordensgemeinschaften, kirchliche Krankenhäuser oder Schulen etc. sind gut gemeinte Bemühungen um mehr Engagement für die Organisation und um eine tiefere Identifikation mit den Zielen, allerdings nur so lange und dann, wenn solche Leitbilder nicht von anderen Organisationen einfach kopiert wurden und somit eher schnell wieder