»Na, na.« Granny tätschelte ihren Arm. »Ich weiß, du bist jetzt ein bisschen durcheinander. Weine ruhig und lass alles raus.«
Ein bisschen durcheinander? Und dabei war das wohl noch nicht alles, Granny wollte doch noch mit etwas anderem herausrücken, mit irgendeiner Erklärung, warum sie in Krähenstein gefangen waren. Das muss aber schon eine gute Erklärung sein, dachte Betty. Eine echte, solide Begründung, um ihre Träume zu zerschlagen, und nicht nur fadenscheinige Befürchtungen.
Charlie weinte noch immer. Ihr Körper wurde jetzt von heftigem Schluchzen geschüttelt. »Granny? Ich verstehe nicht, was da gerade passiert ist. Bist du eine … eine Hexe?«
»Eine Hexe? Du liebe Zeit, nein!«, rief Granny.
»A-aber deine T-tasche …«
»Ja, ja, ich weiß. Erst waren wir an einem Ort, dann landeten wir an einem anderen. Es ist eine Reisetasche, kein Hexenbesen. Und weißt du was? Eines Tages wird sie dir gehören!«
Da wimmerte Charlie nur noch lauter.
»Aber wie …?«, begann Betty. Denn auch wenn Granny es abstritt, Betty konnte nicht anders, als weiter darüber nachzugrübeln. Hexen gab es in der Wirklichkeit nicht, oder etwa doch?
»Ich weiß es nicht.« Granny zündete ihre Pfeife an und nahm einen tiefen Zug. Dichter Rauch hüllte sie ein, der stark nach Nelken und anderen Gewürzen roch. »Ich weiß nicht, wie es funktioniert, ich weiß nur, dass es funktioniert.«
»Musst du unbedingt rauchen?«, schimpfte Fliss und rückte ihren Stuhl weg. »Du weißt, was für ein Gestank das ist und dass wir den Rauch nicht gerne einatmen.«
»Ich will auch nicht, dass ihr ihn einatmet«, sagte Granny. »Das ist mein Rauch. Ich habe viel Geld dafür bezahlt.«
Das vertraute Gezänk schien Charlie etwas zu beruhigen. Ihr Schluchzen wurde zu einem leisen Schniefen. Schließlich streckte sie den Arm aus und griff nach ihrer Tasse wie eine Maus, die sich ein Stück Käse schnappt und damit zurück in ihr Loch flitzt.
Betty nahm einen großen Schluck Tee und verzog das Gesicht. Er war schwach und zu süß, genauso miserabel wie alles, woran sich Fliss in der Küche versuchte. »Wie lange weißt du schon davon, Fliss? Du scheinst von all dem ja nicht gerade überrascht zu sein.«
»Seit ein paar Monaten.« Fliss spielte mit einem kleinen Zopf, den sie in ihr Haar geflochten hatte. »Granny hat es mir an meinem Geburtstag erzählt.«
Dann hatte sich Betty die Veränderung ihrer Schwester also doch nicht eingebildet. Die ganze Zeit über hatte Fliss ihr Dinge verheimlicht. Grannys Geheimnisse gehütet. Die Fäden der Eifersucht verknüpften sich immer fester und mischten sich mit dem Gefühl eines Vertrauensbruchs. Warum hatten Fliss und Granny ihr beide nicht vertraut?
Granny paffte eine weitere Wolke süßlichen Rauchs in die Luft. »Das ist noch nicht alles.«
Betty schwieg. Das hatte sie sich schon gedacht.
»Dieser … dieser Spiegel, den Granny mir zum Geburtstag geschenkt hat«, fuhr Fliss fort. »Der kann auch etwas.«
Charlie lugte über den Rand ihrer Teetasse. »Der Meerjungfrau-Spiegel?«
Betty taten die Finger weh, weil sie ihre Tasse so fest umklammert hielt. Sie stellte die Tasse auf den Tisch. »Und was kann der Spiegel?«
Fliss warf einen Blick zu Granny und wurde ganz rot im Gesicht. »Er … er lässt mich mit Leuten reden, die … nicht da sind.«
»Die nicht da sind?«, wiederholte Betty. Vor diesem Abend hätte sie darüber gespottet – vor dem ganzen Hokuspokus mit Grannys Reisetasche. Sie hätte gern geglaubt, das alles wäre ein raffinierter Trick, um sie dafür zu bestrafen, dass sie ausgerissen war, aber sie wusste, Granny würde normalerweise nie eine Gaststätte voller durstiger Gäste im Stich lassen – und Fliss war genauso schlecht darin, zu lügen, wie zu kochen. »So was wie … Geister?«
Charlie stieß ein erschrockenes Krächzen aus.
»Nein!«, sagte Fliss eilig. »Nicht so etwas. Leute, die woanders sind. Auf der anderen Seite der Insel vielleicht oder einfach im Zimmer nebenan. Auf einer der Inseln des Jammers – oder weiter weg.«
Die Inseln des Jammers. Sofort musste Betty an ihren Vater denken. Hatte Fliss den Spiegel benutzt, um mit ihm zu sprechen? Sie öffnete den Mund, um zu fragen, aber dann überlegte sie es sich anders. Barney Widdershins konnte warten. Zu viele andere Fragen zu diesen merkwürdigen Gegenständen drängten sich in ihrem Kopf nach vorn und verlangten Antworten.
Betty nippte noch einmal an ihrem Tee. Der Schock wich allmählich von ihr, und sie fing an zu zittern. So etwas wie magische Gegenstände gab es doch gar nicht, höchstens in Träumen und Geschichten … Aber so vernünftig Betty auch war, sie konnte nicht leugnen, was sie da vorhin erlebt hatte – und sie wusste, dass sie nicht träumte. Wie war es möglich, in Sekundenschnelle von einem Ort zu einem anderen zu reisen, einfach indem man eine alte Tasche umstülpte? Und wie konnte jemand durch Spiegelglas mit Leuten an anderen Orten sprechen? Es gab nur eine Möglichkeit, so etwas zu beschreiben: Magie. Sie erinnerte sich an andere Momente, als sie mit Fliss und Charlie versucht hatte auszureißen und Granny sie in letzter Minute aufgespürt hatte … und dass Granny nie zu spät kam – egal, wohin. Jetzt ergab das alles einen Sinn.
»Woher kommen sie überhaupt?«, fragte Betty schließlich. »Die Tasche und der Spiegel?«
Granny zog noch einmal an ihrer Pfeife, hustete und zögerte. »Das weiß ich nicht so genau. Niemand weiß das. Aber sie sind seit Jahrzehnten in der Familie. Wurden durch Generationen von Widdershins-Mädchen weitergereicht. Das war schon immer so – zumindest, solange ich mich erinnern kann.«
»Und wie lange ist das?«, fragte Betty.
Granny schürzte die Lippen, während sie nachdachte. »Ungefähr hundertfünfzig Jahre.«
»Und wann wolltest du Charlie und mir davon erzählen?«, fragte Betty weiter. »Falls du es uns überhaupt erzählen wolltest?«
»Das wollte ich«, antwortete Granny. »An eurem sechzehnten Geburtstag. So, wie ich das bei Fliss gemacht habe.«
»Und du?«, fragte Charlie. »Warst du auch sechzehn, als du die Tasche bekommen hast?«
»Nein«, sagte Granny. »Ich hab die Tasche am Tag meiner Hochzeit bekommen.«
Natürlich, dachte Betty. Granny war keine geborene Widdershins. Sie hatte in die Familie eingeheiratet, genau wie Bettys Mutter. »Ein Hochzeitsgeschenk, das es in sich hatte«, bemerkte sie.
Granny lächelte matt. »Ich schätze, es war ein kleiner Ausgleich für den Rest des –« Sie verstummte, als wäre ihr etwas herausgerutscht, das sie nicht hätte sagen sollen, aber Betty sprang sofort darauf an.
»Der Rest wovon?«
»Dazu komme ich gleich.«
Betty warf einen Blick zu Fliss, und es schnürte ihr die Brust zu. Worum auch immer es sich handelte, sie konnte am Gesichtsausdruck ihrer Schwester ablesen, dass sie Bescheid wusste und es nichts Gutes war.
Granny nahm die Pfeife in die andere Hand, um an ihrem Whisky zu nippen. »Es gibt drei Gegenstände … drei Gaben, wenn du so willst. Jedes ist ein alltäglicher Gegenstand. Mit jedem ist eine andere Fähigkeit verbunden. Ich nenne es eine Prise Magie.«
Angst oder Aufregung – oder eine Mischung aus beidem – begann in Bettys Bauch zu kribbeln. Granny das Wort »Magie« aussprechen zu hören hatte etwas Fantastisches. Und doch … Grannys unvollendeter Satz schwelte noch immer beunruhigend in ihren Gedanken. Was hatte das alles damit zu tun, dass die Widdershins in Krähenstein gefangen waren? Sollten die magischen Gaben ihnen nur etwas Unheilvolleres versüßen? Sie lehnte sich über den Tisch. »Du meinst … wenn Charlie und ich sechzehn werden, bekommen wir auch eine