»Warum nicht?«, fragte Fliss.
»Sie hatte nie Grund dazu«, antwortete Granny. »Wie all die Frauen vor ihr wurde eure Mutter gewarnt, sie nicht leichtfertig zu benutzen. Und sie mochte sie nicht – zumal sie nicht wusste, woher sie kamen und wie wir sie bekommen hatten.«
»Weiß das denn niemand?«, fragte Betty zaghaft.
Ein gequälter Ausdruck huschte über Grannys Gesicht. Wieder hatte Betty das Gefühl, dass die alte Frau ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählte. »Wenn es jemanden gibt, der es weiß, dann hat er beschlossen, es nicht zu sagen.«
In der Küche wurde es still, so still, dass man das Ticken der alten Wanduhr mit dem Raben hören konnte. Betty beäugte die Holzpuppen jetzt mit einem unbehaglichen Gefühl. Es war etwas Unheimliches an verzauberten Familienerbstücken, die weitergereicht wurden, ohne dass jemand wirklich über sie Bescheid wusste. Aber ihre Verlockungen waren einfach zu groß, um ihnen zu widerstehen.
»All diese Magie«, meinte Betty wehmütig, »und du sagst, wir sollen sie nicht benutzen?«
»Ich sage«, erklärte Granny, »dass sie für Zeiten der Not gedacht ist – nicht dafür, euch mit banalen Zaubertricks zu unterhalten.«
»Warum sollten wir sie aber brauchen?«, fragte Betty.
»Man weiß nie«, murmelte Granny und unterdrückte einen Schluckauf. »Es könnte ja einmal sein, dass ihr Mädchen euch verstecken oder schnell flüchten müsst. Wie ich eines Abends, bevor ihr drei hier gewohnt habt. Es gab einen Einbruch nach Feierabend, als ich allein war. Da habe ich die Reisetasche benutzt, um mit den Einkünften des Abends sicher aus dem Haus zu kommen und Alarm zu schlagen. Ohne die Tasche wäre ich nie entkommen.« Sie griff nach ihrem Glas, stellte fest, dass es leer war, und schob es verärgert zur Seite. »Ich sage nicht, dass ihr sie unbedingt brauchen werdet. Aber ihr dürft diese Gegenstände nie unbedacht verwenden, besonders in einem Ort wie Krähenstein. Die meisten Leute hier haben Verbindungen zu den Häftlingen im Gefängnis. Gefährliche Leute, die vor nichts zurückschrecken würden, um solche Dinge in die Hände zu bekommen. Stellt euch vor, sie wüssten von einer Tasche, die sie auf die andere Seite der Gefängnismauern transportieren könnte … oder von einer Matroschka-Puppe, die sie unbemerkt an den Wärtern vorbeischmuggeln könnte. Deshalb hört mir gut zu: Eure Magie darf nur benutzt werden, wenn sie wirklich benötigt wird. Alles andere ist ein zu großes Risiko.«
»Aber du hast es doch auch getan«, wandte Betty ein. »Du hast heute Abend deine Reisetasche benutzt, um uns zu finden und direkt auf unserem Boot zu landen, wenn du doch einfach auf das nächste hättest warten können.«
»Das ist der springende Punkt – ich konnte nicht warten. Ich hätte euch nie rechtzeitig gefunden.«
»Rechtzeitig wozu?«, fragte Betty. »Um uns den Spaß zu verderben, bevor er überhaupt begonnen hatte?« Sie wartete auf den sicheren Kommentar zu ihrem frechen Mundwerk, aber er kam nicht. In ihrem Bauch breitete sich Angst aus. Das ganze Gerede über die Puppen und die Magie hatte sie von ihrer wichtigsten Frage abgelenkt. »All das ist noch keine Antwort auf das, was du vorhin versprochen hast zu erzählen … warum wir Krähenstein nicht verlassen können.«
Granny griff nach ihrem Tabaksbeutel. »Ich dachte, ihr solltet die gute Nachricht zuerst hören.« Sie zündete ihre Pfeife an und nahm einen tiefen Zug, als wollte sie noch etwas Mut in sich aufsaugen. »Die Wahrheit ist: Wir sind verflucht … jede von uns. Kein Widdershins-Mädchen hat Krähenstein je verlassen können. Wenn wir es tun, werden wir beim nächsten Sonnenuntergang sterben.«
Kapitel 5
Der Fluch der Widdershins
Betty starrte ihre Großmutter an. Für einen Moment regte sich in der Küche nichts, wie in einer Szene, die ein Maler auf Leinwand gebannt hatte. Grannys Gesicht war eine Maske des Kummers. Fliss’ dunkle Augen starrten auf ihren Schoß. Selbst der Rauch aus Grannys Pfeife wirkte bewegungslos, eine benebelnde Wolke, die über ihnen hing.
Ein furchtbarer Laut drang aus Bettys Kehle, halb Stöhnen, halb Schluchzen. Es kam ihr vor, als wäre kein Sauerstoff mehr im Zimmer, als hätte die Wahrheit die ganze Luft herausgesaugt. So wie all ihre Träume und Hoffnungen aus Betty herausgerissen worden waren. Das war es also, das große Geheimnis. Die Antwort, nach der sie gegraben hatte wie nach etwas, das im Dreck verscharrt war. Sie waren hier in Krähenstein gefangen, für immer.
Die vernünftige Seite in ihr wollte lachen, herausplatzen, wie lächerlich die Vorstellung eines Fluchs doch war. Nur fühlte Betty sich im Moment überhaupt nicht vernünftig, nach allem, was gerade passiert war. Wenn sie sich Grannys Ausreden in all den Jahren und ihre Angewohnheit, plötzlich aus dem Nichts irgendwo aufzutauchen, vor Augen führte, dann erschien dieser Fluch erschreckend möglich.
Sie würde niemals hier wegkommen. Niemals davonsegeln und Betty, die Kühne, sein, Betty, die Abenteurerin. Sie war nur ein weiteres Widdershins-Mädchen, verdammt zu einem Sklavenleben in endloser grauer Eintönigkeit. Sie saßen alle genauso fest wie Vaters ramponiertes Boot, das im Hafen vor sich hin rottete: auf den Wellen dümpelnd, doch ohne Aussicht, jemals in See zu stechen.
Sie blinzelte, als Grannys Pfeifenrauch ihre Augen tränen ließ. Neben ihr begann Charlie leise zu weinen. Doch Betty war zu benommen, um sie zu trösten.
»Verflucht …?«, fragte Betty tonlos. »Wie? Warum?«
»Dieselben Fragen habe ich mir auch gestellt, als ich zum ersten Mal davon erfahren habe.« Granny zog an ihrer Pfeife. Ihre Augen waren ganz glasig. »Ich dachte, es wäre nur eine Geschichte, die neugierige Mädchen daran hindern sollte, zu weit umherzustreunen. Aber selbst ich musste zugeben, dass der Tod von acht Widdershins-Mädchen im Laufe der letzten hundertfünfzig Jahre kein Zufall sein konnte. Seltsame, unerklärliche Todesfälle von gesunden Mädchen und Frauen.«
»Wann hast du denn davon erfahren?«, fragte Betty schaudernd. »War das auch an deinem Hochzeitstag?«
»Nein.« Granny lächelte matt. »Davor. Euer Großvater hat mich schon lange vorher gewarnt, als wir noch frisch verliebt waren. Er hat mir reichlich Chancen gegeben, es mir noch einmal anders zu überlegen.«
Betty starrte sie mit offenem Mund an. »Und du hast trotzdem keinen Rückzieher gemacht?«
Granny zuckte die Achseln. »Die Menschen bringen alle möglichen Opfer für …«
»Für die Liebe«, beendete Fliss den Satz. Sie legte ihre Hand auf Grannys alte, faltige.
»Entschuldige«, stotterte Betty. »Aber ich verstehe das alles nicht … es ist einfach zu seltsam.« Und verwirrend und unfair, setzte sie in Gedanken wütend hinzu. All die Möglichkeiten, die Grannys verzauberte Gegenstände zu bieten schienen, waren ihnen wieder entrissen worden, und nachdem sie die Magie selbst erlebt hatte, fiel es ihr schwerer, Grannys weitere Worte in Zweifel zu ziehen. »Bist du sicher?«, fragte sie kraftlos. »Kann es nicht auch einfach … Pech gewesen sein?«
»Ich war damals ganz ähnlich wie du«, fuhr Granny fort. »Erst habe ich mich geweigert, es zu glauben. Doch dann habe ich es mit eigenen Augen gesehen. An dem Tag, als die Anzahl der Todesopfer auf neun anstieg.«
Die Luft im Zimmer schien immer dichter zu werden, nicht nur wegen des Rauchs. Betty hatte plötzlich Schwierigkeiten zu atmen. »Neun … neun Mädchen sind gestorben?«, fragte sie zaghaft. »Ich meine … ich weiß, du hast gesagt, es passiert bei Sonnenuntergang, nachdem die Mädchen Krähenstein verlassen haben, aber was genau passiert da? Fallen sie … fallen wir … dann einfach tot um?« Sie sah Granny forschend an und machte sich auf weitere furchtbare Enthüllungen und Geschichten von tragischen Unfällen gefasst. Eine Vision zog an ihrem inneren Auge vorbei: Sie hatte das Gefühl, aus großer Höhe zu fallen, der Boden raste auf sie zu, der Wind rauschte in ihren Ohren, und eine Welle von Angst und Trauer erfasste sie. Betty kniff die Augen zusammen. Der Adrenalinschub ließ sie zittern. Was war das denn gewesen?
»Es