»Und wie lange noch, bis er rauskommt?«
Betty seufzte. Wie immer löste der Gedanke an ihren Vater eine Mischung von Gefühlen in ihr aus: Traurigkeit, Wut, Enttäuschung. Ähnlich wie der Tod ihrer Mutter hatte seine Abwesenheit Betty und Fliss härter getroffen als Charlie. Auch wenn Barney Widdershins ein – um mit Grannys Worten zu sprechen – armseliger Nichtsnutz war, konnte Betty nicht anders, als eine gewisse Loyalität ihm gegenüber zu empfinden, obwohl er kein guter Vater war. »Zwei Jahre, drei Monate und sechsundzwanzig Tage«, antwortete Betty schließlich.
»Warum flüsterst du?«, fragte Charlie. Sie war erst drei gewesen, als sie ihren Vater festnahmen, und da sie seitdem keinen Kontakt zu ihm gehabt hatte, empfand sie keine besondere Bindung, sondern einfach nur Neugier. »Du sagst doch immer zu Fliss, es gibt keinen Grund, sich zu scharnieren, weil er im Gefängnis sitzt.«
»Genieren«, korrigierte Betty sie. Wenn sie irgendwo anders wohnten, würde sie sich dafür schämen, aber nicht hier. Schließlich war nahezu jeder, der in der Nähe des Gefängnisses wohnte, mit jemandem dort drinnen verwandt. »Das stimmt schon. Aber hör auf, über persönliches Zeug zu plappern, wenn wir nicht erkannt werden wollen. Man weiß nie, wer zuhört. Und jetzt nimm die Beine in die Hand, die Fähre wartet schon.«
»Oh!« Charlie grinste und zog ihren Hexenhut tiefer ins Gesicht. Es machte ihr sichtlich Spaß, etwas auszuhecken.
Betty rannte voraus, die hüpfende Charlie im Schlepptau, den Blick auf das Gefängnis geheftet. Welche Zelle wohl die ihres Vaters war? Es war unmöglich, das von hier zu erkennen. Häftlinge wurden oft verlegt. Er war vielleicht nicht einmal mehr in derselben Zelle, woher sollte Betty das wissen. Es war sechs Monate her, dass Granny Fliss und Betty zuletzt zu einem Besuch mitgenommen hatte. Angeblich hatte ihr Vater behauptet, er fühle sich zu elend und schäme sich zu sehr, um seinen Töchtern unter die Augen zu treten oder wenigstens auf ihre Briefe zu antworten.
Bettys Blick verfinsterte sich. Das hätte er sich mal überlegen sollen, bevor er sich einbuchten ließ. Sie warf dem Gefängnis einen letzten zornigen Blick zu und wandte sich entschlossen ab. Sie würde es nicht zulassen, dass ihr Vater ihr diesen Abend verdarb, so, wie er alles andere verdorben hatte. Sie rannten die letzten Schritte bis zum Anleger. Offensichtlich gab es keine Nebelwarnung, denn der Fährmann schien sich nicht an den feinen Schwaden zu stören, die um das Boot waberten. An Bord saßen schon eine Handvoll kostümierter Leute, die offenbar auch zum Halloween-Jahrmarkt wollten. Betty bezahlte das Fahrgeld und quetschte sich dann auf den schmalen Sitz neben Charlie.
Glücklich blickte sie den Weg zurück. Waren sie wirklich unbemerkt und ohne weitere Schwierigkeiten davongekommen? Trotzdem wippte sie ungeduldig mit dem Fuß, bis der Fährmann das Boot abstieß, und dann glitten sie auch schon über das Wasser.
»Dem Wagemutigen winkt das Abenteuer!«, flüsterte Betty aufgeregt. Sie hatte sich schon den ganzen Tag darauf gefreut, ihr neues Motto laut auszusprechen.
Charlie beeindruckte das wenig. »Was meinst du, welche Farbe hat die Zuckerwatte?«
»Grün vielleicht, oder orange …«, antwortete Betty gedankenverloren. Sie starrte zurück zum Ufer. Ein Stück vom Fähranleger entfernt war der Hafen. Irgendwo zwischen den anderen Booten lag ihr eigenes, ein zusammengezimmertes Gebilde aus morschem Holz. Ihr Vater hatte es bei einer Wette gewonnen und seitdem immer wieder vorgehabt, es auszubessern und wieder seetauglich zu machen – ohne Erfolg. Vielleicht würde er das nie auf die Reihe bekommen. Doch in diesem Moment war es Betty egal. Sie brauchte ihren Vater oder sein Boot nicht, um Abenteuer zu erleben. Hier, auf dem Wasser, in der Nacht, war sie nicht mehr nur die mittlere Widdershins-Schwester: plump und unattraktiv gegenüber Fliss mit ihrer Schönheit und ihrem Charme, und zu vernünftig im Vergleich zur niedlichen, verschmitzten Charlie. Hier war sie Betty, die Kühne; Betty, die Abenteurerin! Sie konnte machen, was sie wollte, sie konnte gehen, wohin sie wollte!
Alles sah jetzt anders aus, gruseliger und geheimnisvoller, und in der Ferne konnte sie seltsame flackernde Lichter sehen, wie magische Leuchtkugeln, die über der Wasseroberfläche schwebten. Die Leute nannten sie Irrwische. Manche sagten, es wären die Seelen derer, die in der Marsch umgekommen waren, andere hielten sie für boshafte Wassergeister, die versuchten, Reisende auf Irrwege zu führen.
Sie starrte hinüber zum Gefängnis. Die Festung befand sich auf der Insel der Sühne, einer der drei nahe gelegenen Inseln in der Marsch; dort würden sie zuerst vorbeikommen. Die zweite, kleinere Insel war bekannt als Insel der Klagen, wo alle Toten Krähensteins begraben waren. Betty war nur zweimal dort gewesen, zuletzt als ihre Mutter kurz nach Charlies Geburt gestorben war. Eine tiefe Traurigkeit überkam sie, als sie daran zurückdachte. Eine Wunde, die noch immer nicht verheilt war.
Die letzte der Inseln hieß Insel der Qualen. Sie war unzugänglich für jene, die auf der Hauptinsel lebten. Die Bewohner dieser Insel waren Verbannte: Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen worden waren, aber noch ihre Strafe verbüßten, indem man sie nicht auf das Festland zurückkehren ließ. Oder jene, deren Verbrechen nicht schwerwiegend genug waren, um eine Haftstrafe zu fordern, aber ernst genug, um eine Verbannung zu rechtfertigen. Zusammen wurden die drei kleineren Inseln als Inseln des Jammers bezeichnet und gehörten zu Krähenstein. Neben der Hauptinsel waren diese Inseln alles, was die Mädchen je kennengelernt hatten – niemals war eine von ihnen weiter gereist.
Heute Abend, nach all der Zeit der Sehnsucht, würde sich das ändern. Es war ihr Geburtstagsgeschenk an sich selbst, hatte Betty beschlossen. Ein Schritt in die Richtung des Lebens, das sie wollte, ein Leben voller Möglichkeiten und Abenteuer; eines, in dem sie keinen Kohlestaub mehr unter den Fingernägeln hätte, sondern goldenen Sand.
Das Boot war noch nicht weit gefahren, als Betty merkte, dass etwas vor sich ging. Der berüchtigte Nebel der Marsch machte seinem Ruf alle Ehre: Die Gefängnislichter waren verschwunden. Stattdessen konnte man nur noch dichten grauen Dunst sehen. Der wabernde Nebel strich um sie herum und fuhr ihnen in die Knochen. Bettys Kopfhaut fing vor Angst an zu kribbeln. Eine Mutter, die ihnen gegenübersaß, zog ihren kleinen Sohn näher an sich heran und murmelte beunruhigt vor sich hin.
»Betty?« Charlie zupfte sie am Ärmel. »Was, wenn das Boot sich verirrt oder wir nachher den Weg zurück nicht finden können …«
Betty schluckte. Granny hatte über die Jahre viele Ausreden gehabt, sich mit den Mädchen nicht weit von zu Hause wegzubewegen, und jetzt schossen ihr all diese Ermahnungen wieder in den Kopf. »Wir könnten die Fähre zurück verpassen … in der Marsch sind schon viele Boote auf Felsen gelaufen und gesunken … man munkelt, dass es in dieser Gegend noch Sklavenhändler gibt, die nur darauf warten, Menschen zu entführen und zu verkaufen …« Plötzlich fühlte sich Betty gar nicht mehr so scharfsinnig oder mutig, sondern ziemlich töricht und ängstlich.
»Man sieht ja kaum noch was!«, rief die Frau mit dem kleinen Jungen dem Fährmann zu.
»Stimmt«, grunzte er. »Is’ vielleicht nur ein kleines Nebelfeld. Doch wenn’s nicht gleich aufklart, müssen wir umkehren.«
Charlies Unterlippe begann zu zittern. »A-aber meine Zuckerwatte …«
Betty antwortete nicht. Sie versuchte krampfhaft, ruhig zu bleiben, ihrer Schwester zuliebe. Vielleicht war Granny gar nicht übervorsichtig gewesen. Vielleicht hatte sie recht gehabt, sich zu fürchten …
Beängstigend schnell wurde das Boot von dichtem Nebel eingehüllt, und die Temperatur fiel nun merklich. Das war kein kleines Nebelfeld. Sie waren vollkommen von undurchsichtigem Dunst umgeben. Der Fährmann hörte auf zu rudern und hob seine Laterne. Betty spürte, wie Charlies kleine Hände nach ihr griffen. Sie legte ihrer Schwester einen Arm um die Schultern und hob die andere Hand vor ihr Gesicht. Ihre Finger berührten schon fast ihre Nase, als sie die Hand endlich sehen konnte.
Da erschütterte ein dumpfer Schlag das Boot. Die Leute hielten vor Angst den Atem an, und einige schrien, als das Boot gefährlich