Eine Prise Magie (Bd. 1). Michelle Harrison. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michelle Harrison
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783961775446
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dem, was heute Abend passiert ist … als ihr euch einfach so davongemacht habt, ist mir klar geworden, dass manche Pläne geändert werden müssen.«

      »Oh, Granny, bitte …«, sagte Betty. »Ich weiß, es war falsch, deine Regeln zu brechen, und egal, welchen magischen Gegenstand du für mich aufgehoben hast – ich habe ihn nicht verdient. Aber bitte bestrafe Charlie nicht dafür.« Sie sackte betrübt auf ihrem Stuhl zusammen. »Es ist nicht ihre Schuld. Es war alles meine Idee.«

      »Ich weiß«, sagte Granny mit sanfter Stimme. »Ich habe aber nicht vor, irgendeine von euch zu bestrafen. Darum ging es nie, sondern einzig darum, euch zu beschützen. Aber heute Abend habe ich begriffen, dass es euch nur noch mehr in Gefahr gebracht hat, euch die Dinge zu verheimlichen. Und deshalb habe ich mich entschlossen, ab jetzt mit offenen Karten zu spielen.« Sie legte ihre Pfeife in den Aschenbecher und stand auf. »Wartet hier.«

      Granny verschwand im Flur. Betty griff nach Charlies Hand. Sie war eiskalt. »Du musst keine Angst haben«, sagte sie zu ihr, auch wenn sie sich insgeheim fragte, ob Charlie das alles verkraften würde. Schuldgefühle nagten an ihr, aber jetzt war es zu spät für Reue. Was auch immer nun passieren würde, Betty allein hatte es heraufbeschworen. Trotzdem konnte sie sich noch immer nicht vorstellen, wie Granny sie überzeugen wollte, Krähenstein nicht zu verlassen – oder sie dazu bringen könnte, ihre Träume aufzugeben.

      Da kam Granny zurück, mit einer kleinen Kiste in der Hand. Sie war aus dunklem Holz, mit einem gewölbten Deckel und verschlungenen Eisenverzierungen. Vorn hing ein großes Schloss, und auf beiden Seiten war ein großes, schnörkeliges W in das Holz geschnitzt. Die Kiste sah aus wie etwas, das Geheimnisse barg und Spannung, oder einen Schatz. Und doch durchlief Betty ein angstvolles Zittern, als Granny den Schlüsselring von ihrem Gürtel löste. Bedeutete ein Schloss zu öffnen, dass jetzt ein anderes um sie zuschnappen würde? War der Preis für diese magischen Gegenstände ihre Freiheit?

      Trotz dieser Gedanken beugte Betty sich neugierig vor, als Granny das Schloss abnahm und den Deckel der Kiste hob. Ein muffiger Geruch strömte ihnen entgegen. Betty spähte hinein. In der Kiste lag ein kleines Paket, eingewickelt in schlichtem braunem Papier und zusammengehalten von einer Schnur.

      »Wie ich schon sagte«, erklärte Granny. »Als Jüngste wird Charlie die Letzte sein, die etwas erbt, also steht fest, dass sie die Reisetasche von mir bekommt. Das hier, Betty, gehört dir. Aber bevor du es auspackst, lasst mich klarstellen, dass jeder der Gegenstände speziell nur für eine von euch bestimmt ist. Es gibt kein Tauschen untereinander.«

      Zögernd streckte Betty die Hand nach dem Bündel aus. Ich muss das nicht annehmen, sagte sie sich. Nicht, wenn es bedeutet, dass ich für immer in Krähenstein bleiben muss. Nicht einmal Magie war diesen Preis wert. Und trotzdem durchfuhr sie ein Schauer von Nervenkitzel. Der Gegenstand war leichter als erwartet. Sie zog an der Schnur und löste den Knoten.

      »Warte«, sagte Granny. »Erst müsst ihr alle versprechen, dass ihr diese Dinge geheim halten werdet. Habt ihr das verstanden? Ihr dürft niemandem außerhalb der Familie von diesen Gegenständen und ihren magischen Kräften erzählen.«

      »Du meinst … Vater weiß davon?«, fragte Betty.

      Grannys Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ja. Und soweit ich weiß, ist es das einzige Geheimnis, das er für sich behalten hat.«

      »Das wundert mich«, sagte Fliss scharf. »Ich hätte gedacht, so eine große Sache wäre das Erste, was er ausplaudern würde.« Es fiel ihr schwer, über ihren Vater zu sprechen. Als er damals ins Gefängnis gekommen war, hatte Fliss am längsten gebraucht, sich damit abzufinden.

      Betty würde den Tag seiner Verhaftung nie vergessen: Fliss, die unter Tränen beteuerte, dass alles ein Irrtum sei; Granny, die Vater mit furchtbaren Schimpfwörtern überhäufte und dann den Kopf in den Händen vergrub und sich fragte, wie sie drei Mädchen alleine großziehen sollte. Auch auf Charlie, die eigentlich noch zu klein war, das alles zu verstehen, hatte sich die Stimmung übertragen, und sie hatte doppelt so viel geweint wie sonst. Betty selbst hatte sich verraten gefühlt. Das Gefühl hätte nicht stärker sein können, wenn er sie aufs Meer hinausgerudert und dort ausgesetzt hätte. Wie konnte er sie nur so im Stich lassen, nach dem, was mit Mutter passiert war?

      Granny seufzte. »Ja, das habe ich auch gedacht. Aber er hat mir bewiesen, dass ich unrecht hatte, und darüber bin ich heilfroh. Euer Vater ist ein Prahler und ein Narr, und das wird sich auch nicht ändern. Aber trotz all seiner Fehler hat er dieses eine Geheimnis bewahrt, und das hat er aus Liebe getan. Das dürft ihr Mädchen nicht vergessen.«

      »War es nicht schwierig, es zu verbergen?«, fragte Betty. »Die Magie, meine ich?«

      Granny zuckte die Achseln. »Die Magie der Reisetasche hab ich schließlich all die Jahre vor euch dreien geheim gehalten, oder etwa nicht?« Sie verstummte und deutete mit einem Kopfnicken auf das ungeöffnete Päckchen.

      Endlich riss Betty das Papier auf.

      Darin war eine hölzerne Matroschka, eine hohle Puppe, in der sich mehrere, immer kleiner werdende Puppen verbergen, bis zur letzten winzigen, die sich nicht öffnen lässt. Vorsichtig drehte Betty die erste Puppe auf und nahm die nächste heraus und dann die nächste. Sie stellte sie in einer Reihe auf. Die Puppen waren wunderschön bemalt, jede ähnlich wie die nächste und doch anders. Vier waren es insgesamt, jede mit welligem, rotbraunem Haar und kastanienbraunen Augen, so fein gezeichnet, dass ihre Wangen sogar mit winzigen Sommersprossen gesprenkelt waren.

      Jede Puppe hatte in der Mitte eine kreisförmige Fläche, auf der das gleiche kleine Häuschen, eine Wiese und ein Fluss gemalt waren. Mit jeder Puppe änderte sich die Jahreszeit: Auf der größten Puppe sah man blühende Bäume und ein Gelege von Eiern in einem Nest. Auf der nächsten waren Entenküken im Wasser zu sehen, und auf der dritten die ausgewachsenen Vögel, die Richtung Süden flogen, während rotbraune Blätter von den Bäumen fielen. Auf der letzten Puppe war eine verschneite Winterlandschaft dargestellt, gemalt in blassen Blautönen. Jede Puppe hielt einen kunstvoll verzierten Schlüssel in der Hand, der so auf die Oberfläche graviert und gemalt worden war, dass jede Hälfte einen Teil des Schlüssels hatte, wenn man die Puppe auseinandernahm.

      »Sie sind wunderschön.« Betty strich mit dem Daumen über den Schlüssel auf der äußersten Puppe.

      »Ich will die Puppen«, beschwerte sich Charlie. »Die Tasche ist hässlich!«

      »Pech gehabt«, sagte Granny mit einem Achselzucken. »Außerdem geht es nicht darum, wie sie aussehen, sondern was sie können.«

      »Was können sie denn?«, fragte Betty.

      Grannys Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Etwas ziemlich Grandioses«, sagte sie, rieb sich die Hände und schmunzelte. »Nimm irgendetwas von dir, etwas, das klein genug ist, um in die zweite Puppe zu passen.«

      Betty lief ein erwartungsvoller Schauer über den Rücken. Sie warf einen Blick zu Fliss, doch ihre Schwester sah genauso verwirrt aus, wie sie selbst sich fühlte. Offensichtlich hatte Granny ihr nicht von der Magie der Puppen erzählt. »Etwas Kleines, so was wie … wie eine Münze?«

      »Nein, nein.« Granny fuchtelte mit ihrer Hand durch die Luft wie eine aufgeregte Wespe, die um ein Marmeladenglas schwirrt. »Etwas Persönliches … ein kleines Schmuckstück vielleicht?«

      »Ich hab gar kein – autsch

      Granny hatte sich vorgebeugt und Betty ein krauses braunes Haar ausgerissen. »Damit wird’s gehen.«

      Betty rieb sich die Kopfhaut und stopfte das Haar in die untere Hälfte der zweiten Puppe.

      »Jetzt schraub den Deckel zu«, sagte Granny. »Das ist wichtig, sonst funktioniert es nicht: Du musst so weit drehen, bis die zwei Hälften des Schlüssels wieder genau zusammenpassen, dann steckst du diese Puppe in die größte und machst es genauso.«

      Betty tat es und fragte sich, was um Himmels willen jetzt wohl passieren würde. Als sie die zwei Hälften der äußeren Puppe zusammenschraubte, schnappte Fliss laut nach Luft,