Im letzten Jahr hatte der Halloween-Spaß ein plötzliches Ende gefunden, als die Glocke von Krähenstein zu läuten begann. Es war ein Warnsignal und bedeutete, dass auf der anderen Seite der Marsch der Alarm im Gefängnis ausgelöst worden war. Die »Süßes oder Saures«-Rufe waren verstummt, und stattdessen schrien alle »Gefangene auf freiem Fuß! Geht alle ins Haus und schließt eure Türen!«. Betty und ihre Schwestern waren zurück zur Gaststätte gerannt und hatten oben in Bettys Zimmer ihre Nasen am Fenster platt gedrückt. Während Fliss nervös an den Nägeln kaute und Charlie den entgangenen Süßigkeiten nachtrauerte, war Betty ganz zappelig vor Aufregung gewesen und hatte im Stillen gehofft, dass die Gefangenen erst in ein paar Tagen gefasst würden, nur damit auf Krähenstein einmal etwas los wäre. Ausbrüche waren selten, und wenn man wie sie im Schatten des Gefängnisses aufwuchs, konnte man fast vergessen, wie nah es war – und wie gefährlich es sein konnte. Die Mädchen hatten aus dem Fenster geguckt und gewartet, aber abgesehen von zwei Gefängniswärtern, die mit Laternen die Straßen absuchten, sahen sie niemanden. Beim Frühstück war die Aufregung bereits vorbei, denn sie hatten gehört, dass die Verbrecher in der Marsch gefasst worden waren. Betty hatte solche Fluchtgeschichten schon immer mit Interesse verfolgt, manchmal fühlte sie sich nämlich selbst wie eine Gefangene. Unglücklicherweise hatte der Vorfall der ausgebrochenen Häftlinge Granny nur einen weiteren Vorwand geliefert, den Mädchen jedes Herumstromern zu verbieten.
Betty riss sich aus ihren Erinnerungen und warf einen Blick zurück zum Wildschütz. Fliss hatte das Gebäude einmal als müde alte Brieftaube beschrieben, mit losen Dachziegeln und klappernden Fensterläden, die herunterhingen wie zerrupfte Federn. So hockte das Haus am Rande des Parks, seine verwitterten Ziegelsteine ein Flickwerk der vielen Jahre. Es war, als hätte die Zeit dem Haus einen Ellbogenstoß versetzt, und jetzt neigte sich das ganze Gebäude wie betrunken zur Seite. Aus den Fenstern leuchtete bernsteinfarben das Licht, unterbrochen von Gestalten, die drinnen umherhuschten, und ein paar Hühnergöttern und anderen Glücksbringern, die Granny aufgehängt hatte. Niemand war draußen, niemand ahnte etwas.
Gut. Die Möglichkeit, von einer wutentbrannten Granny zurück nach Hause gezerrt zu werden, war beängstigend und erniedrigend zugleich. Sicher, Granny hatte ein übellauniges Temperament, aber es waren die Konsequenzen, vor denen Betty am meisten Angst hatte. Wenn Granny herausfände, was sie geplant hatte, würde sie Betty nie wieder allein mit Charlie aus dem Haus lassen … und jede Chance auf ein Abenteuer wäre dahin. Die Riemen des Korsetts würden nur noch fester gezurrt werden und ihr die Luft endgültig abschnüren.
Schon hatte Charlie an der ersten Haustür geklopft und trällerte »Süßes oder Saures!«. Die ersten Gaben wurden in ihren Hexenkessel geworfen. Charlie hüpfte zurück zu Betty, während sie eine klebrige Karamellkrähe von Hubbard auspackte, dem Süßigkeitenladen. »Hast du denn gar nichts mitgebracht, wo du deine Süßigkeiten reintun kannst?«
»Nee, ich schnapp mir einfach ein paar von dir«, sagte Betty und fingerte in Charlies Hexenkessel herum, bis sie ihr Lieblingskonfekt fand: eine Marschwaffel. Eine Wolke von Puderzucker stieg auf, während sie sich die Waffel in den Mund stopfte und durch die knusprige Hülle in das schaumige Innere biss. Sie warf einen Blick auf die Turmuhr, als sie sich der alten Feldsteinkirche näherten. Noch sieben Minuten. Unter der Maske prickelte der Schweiß auf ihren Schläfen, und ihr Puls begann zu rasen. Wir dürfen nicht erwischt werden … nicht jetzt, wo wir so nah dran sind. Mit einem weiteren Blick zurück zur Gaststätte griff sie nach Charlies Ärmel und zog sie ungeduldig die Gasse hinunter. »Hier entlang. Ich hab eine Überraschung für dich.«
»Eine Überraschung?« Charlie sah mit großen Augen zu ihr auf. »Aber du hast Granny doch gesagt, dass wir in der Nähe bleiben. Du hast gesagt –«
»Ich weiß, was ich gesagt hab.« Betty lotste Charlie die Straße hinunter. »Aber du und ich gehen jetzt gleich auf ein kleines Abenteuer. Es ist ein Geheimnis, das du für dich behalten musst. Kannst du das?«
Charlie hörte auf zu kauen und nickte ihr mit einem schelmischen, zahnlückigen Grinsen zu. Ihre Zöpfe hüpften auf und ab. »Was denn für ein Abenteuer?«
»Wir wollen nach Marschweiler.«
»Heiliger Krähenfuß!« Charlies große grüne Augen wirkten auf einmal noch riesiger. »Marschweiler? Aber da … da muss man doch auf die Fähre!«
»Ganz genau.« Betty befühlte ihre Jackentasche. Sie spürte das Gewicht der drei Münzen. Wochen hatte sie gebraucht, um das Geld für die Hin- und Rückfahrt zusammenzukratzen, zum Preis von einem silbernen Raben für jeden. Dazu hatte sie die kleine Summe Taschengeld gespart, die Granny ihnen zugestand, und alles zur Seite gelegt, was sie fand, wenn sie in der Gaststätte den Fußboden kehrte. Sie hatte heimlich jede Münze gesammelt: ob nun Krähen oder Federn. Schließlich hatte sie den Fahrpreis zusammengehabt, und jetzt, da Fliss nicht mitkam, war sogar noch Geld übrig.
»Aber Betty, wir werden bestimmt erwischt!«
»Diesmal nicht.«
»Das sagst du immer, bevor etwas schiefgeht.«
Da hatte Charlie nicht ganz unrecht, aber Betty ließ sich nicht von ihrem Plan abbringen.
»Ich habe das alles durchdacht.« Sie war sich ihrer Sache so sicher, dass sie sogar ein neues Motto erfunden hatte, aber das behielt sie noch für sich.
»Was, wenn Granny das rausfindet?«, flüsterte Charlie, halb freudig und halb ängstlich. »Dann können wir aber was erleben!«
»Sie wird es nicht rausfinden«, sagte Betty. »Warum, meinst du, habe ich mir den heutigen Abend ausgesucht? Alle werden verkleidet sein oder Masken tragen. Das ist doch perfekt! Wenn uns niemand erkennt, kann uns auch niemand bei Granny verpfeifen.«
»Und was gibt es in Marschweiler?«, fragte Charlie. »Größere Häuser? Mehr Süßigkeiten?«
»Besser als das.« Betty scheuchte Charlie weiter die dunkle Gasse hinunter. »Da ist ein Jahrmarkt. Spiele wie Apfeltauchen, Seelenbrot und andere Leckereien und ein Preis für das beste Kostüm … und Zuckerwatte!« Und ein Abenteuer, fügte sie in Gedanken trotzig hinzu. Es war ihr egal, wohin sie sich davonmachten – Hauptsache, sie kamen raus aus Krähenstein. Marschweiler war weit genug entfernt, um ihre Lust auf Neues und Abenteuer zu befriedigen, und gleichzeitig nah genug, um ungeschoren davonzukommen. Sich jetzt heimlich ins Unbekannte aufzumachen fühlte sich an, als hätte sie ihr Leben lang einen Juckreiz gehabt und dürfte endlich kratzen.
»Zuckerwatte!«, sagte Charlie atemlos. Seit sie ihren Schneidezahn verloren hatte, klang ihre süße Stimme leicht lispelnd. Sie schob ihre heiße, klebrige Hand in Bettys. »Aber es ist so weit weg. Was, wenn wir es nicht rechtzeitig zum Kuchenessen zurückschaffen?«
»Bis dahin sind wir allemal zurück«, sagte Betty. »Ich hab alles durchgeplant. Und meinen Geburtstagskuchen werden sie bestimmt nicht ohne mich essen! Aber jetzt beeil dich – wir haben nur noch ein paar Minuten, bis die Fähre ablegt.«
Sie huschten weiter die Gasse hinunter und bogen um die Ecke. Unter ihrer Maske grinste Betty triumphierend. Ihr Herz schlug wild. Sie würden es wirklich tun! Sie würden endlich zu sehen bekommen, wie das Leben außerhalb Krähensteins aussah, und das war alles ihr zu verdanken.
Betty lockerte ihren Mantelkragen, und sie fingen an zu rennen. Neben ihr zählte Charlie die Kürbisse und Laternen in den Fenstern und zeigte auf einen Kürbis vor der Schule, den sie gestern geschnitzt hatte. Die Lichter begleiteten sie durch die kopfsteingepflasterten Straßen wie Geister, die sie zur Marsch führten.
Hier gab es immer weniger Häuser, und bald kam die Wegkreuzung in Sicht, wo gar keine Häuser mehr standen. Stattdessen waren in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Marsch mehrere Reihen winziger Kerkerfenster zu sehen, die wie wachsame Augen in der Dunkelheit leuchteten. Noch weiter oben flackerte ein anderes Licht in einem allein stehenden Turm, der den Rest des Gebäudes überragte.
Charlie verlangsamte ihren Schritt, und sie traten zur Seite, um ein paar Leute vorbeizulassen, die